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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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von der Ministerbank, daß die Regierung den Ergebnissen des irischen Systems
immerwährend mit Aufmerksamkeit folge, erblicken wir nur eine Parodie
dessen, was mit Fug und Recht beansprucht werden könnte. Allein wir finden
eine Erklärung und gewissermaßen auch eine Entschuldigung für dies Ver¬
halten in der eigenthümlichen Stellung der Verwaltung, die bei uns wie in
aller Welt nicht gerade mit Vorliebe und Unbefangenheit an die Arbeit geht,
die eigene Mangelhaftigkeit aus dem Studium fremder Vorbilder zu erkennen.
Viel unverzeihlicher aber erscheint uns die Mitschuld des Landtags, der an¬
scheinend ebenfalls froh, der eigenen Mühewaltung überhoben zu sein, die
Erklärungen der Regierungscommissare stets einfach g>ä aota legte und der
noch nie einen auch nur halbwegs ernsthaft gemeinten und ernsthaft durch¬
geführten Versuch gemacht hat die Staatsregierung zu einem correcten Vor¬
gehen zu veranlassen.

Wir sprechen es geradezu aus, daß uns diese Versäumniß des preußischen
Landtags, dies passive Gehenlassen in einer Frage der Humanität und des
Rechts, einer Frage, von deren richtiger Lösung das Wohl und Wehe vieler
Tausende abhängt, ja als eine wahre Versündigung an dem Geiste des Fort¬
schritts wie an dem guten Ruf, den sich die liberale Majorität in mühsamen
Kämpfen auf anderen Gebieten erworben, erscheint. Und was bei dieser
Thatsache noch besonders entmuthigend wirkt, ist ihre Ursache. Fragen
wir, weßhalb denn dieser Gegenstand von einer liberalen Majorität bisher
in so wenig befriedigender Weise behandelt worden ist, so glauben wir einen
plausibler Erklärungsgrund nur in der oft beobachteten Erscheinung finden zu
können, daß Fragen, wie wichtig sie an sich auch sein mögen, meistens so lange
vernachlässigt bleiben, bis die Folgen derselben in der einen oder andern
Weise unerträgliche Mißstände verursachen, welche sich sodann die öffentliche Auf¬
merksamkeit erzwingen. So war es in England mit der Gefängnißfrage. Erst
das Epidemischwerden der Garottirungen (1861) brachte die Niedersetzung einer
Untersuchungscommission zu Wege (1862) und führte zu dem Abschluß der
neuen englischen Gefängnißacte (1864), die sich wesentlich an das irische Sy¬
stem anlehnt. Auf einen solchen Impuls zu warten, müssen wir glücklicher¬
weise verzichten, da die Verhältnisse unseres Gefängnißwesens derartige trau¬
rige Erscheinungen zu erzeugen nicht geeignet sind. Aber bedarf es denn
überhaupt einer so außerordentlichen Veranlassung, um dieser Frage das ihr
gebührende Maß Aufmerksamkeit seitens der Landesvertretung, und, wir
müssen gleichzeitig sagen, seitens der preußischen Presse, die an Indolenz
mit jener bisher gewetteifert hat, zuzuwenden? Ist es eines Culturstaates
würdig, an Reformen nur unter dem Zwangsdruck der äußersten Nothwendig¬
keit zu gehen, und ist es insbesondere Preußens würdig, dem kleinen Sachsen,
das auf diesem Gebiet aus eigener Initiative mit Erfolg Hand angelegt hat,


von der Ministerbank, daß die Regierung den Ergebnissen des irischen Systems
immerwährend mit Aufmerksamkeit folge, erblicken wir nur eine Parodie
dessen, was mit Fug und Recht beansprucht werden könnte. Allein wir finden
eine Erklärung und gewissermaßen auch eine Entschuldigung für dies Ver¬
halten in der eigenthümlichen Stellung der Verwaltung, die bei uns wie in
aller Welt nicht gerade mit Vorliebe und Unbefangenheit an die Arbeit geht,
die eigene Mangelhaftigkeit aus dem Studium fremder Vorbilder zu erkennen.
Viel unverzeihlicher aber erscheint uns die Mitschuld des Landtags, der an¬
scheinend ebenfalls froh, der eigenen Mühewaltung überhoben zu sein, die
Erklärungen der Regierungscommissare stets einfach g>ä aota legte und der
noch nie einen auch nur halbwegs ernsthaft gemeinten und ernsthaft durch¬
geführten Versuch gemacht hat die Staatsregierung zu einem correcten Vor¬
gehen zu veranlassen.

Wir sprechen es geradezu aus, daß uns diese Versäumniß des preußischen
Landtags, dies passive Gehenlassen in einer Frage der Humanität und des
Rechts, einer Frage, von deren richtiger Lösung das Wohl und Wehe vieler
Tausende abhängt, ja als eine wahre Versündigung an dem Geiste des Fort¬
schritts wie an dem guten Ruf, den sich die liberale Majorität in mühsamen
Kämpfen auf anderen Gebieten erworben, erscheint. Und was bei dieser
Thatsache noch besonders entmuthigend wirkt, ist ihre Ursache. Fragen
wir, weßhalb denn dieser Gegenstand von einer liberalen Majorität bisher
in so wenig befriedigender Weise behandelt worden ist, so glauben wir einen
plausibler Erklärungsgrund nur in der oft beobachteten Erscheinung finden zu
können, daß Fragen, wie wichtig sie an sich auch sein mögen, meistens so lange
vernachlässigt bleiben, bis die Folgen derselben in der einen oder andern
Weise unerträgliche Mißstände verursachen, welche sich sodann die öffentliche Auf¬
merksamkeit erzwingen. So war es in England mit der Gefängnißfrage. Erst
das Epidemischwerden der Garottirungen (1861) brachte die Niedersetzung einer
Untersuchungscommission zu Wege (1862) und führte zu dem Abschluß der
neuen englischen Gefängnißacte (1864), die sich wesentlich an das irische Sy¬
stem anlehnt. Auf einen solchen Impuls zu warten, müssen wir glücklicher¬
weise verzichten, da die Verhältnisse unseres Gefängnißwesens derartige trau¬
rige Erscheinungen zu erzeugen nicht geeignet sind. Aber bedarf es denn
überhaupt einer so außerordentlichen Veranlassung, um dieser Frage das ihr
gebührende Maß Aufmerksamkeit seitens der Landesvertretung, und, wir
müssen gleichzeitig sagen, seitens der preußischen Presse, die an Indolenz
mit jener bisher gewetteifert hat, zuzuwenden? Ist es eines Culturstaates
würdig, an Reformen nur unter dem Zwangsdruck der äußersten Nothwendig¬
keit zu gehen, und ist es insbesondere Preußens würdig, dem kleinen Sachsen,
das auf diesem Gebiet aus eigener Initiative mit Erfolg Hand angelegt hat,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/320>, abgerufen am 05.02.2025.