Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Stelle nicht eingegangen werden; hervorzuheben aber bleibt, daß der Ver¬
sasser nach genauen statistischen Vergleichungen der Ergebnisse sich sür das
Progressiv-System ausspricht. Seine Vorschläge lehnen sich im Einzelnen
meistens an das häufig geschilderte irische System an; volle Beachtung ver¬
dienen namentlich seine in einer Denkschrift an das Ministerium entwickelten
Reformvorschläge über die zweckmäßige Behandlung jugendlicher Verbrecher.
"Fast in unmittelbarer Nähe" (wir citiren hier die "Allg. Deutsch. Straf-
rechtszeitung") "gleichsam unter seinen Augen hatte Brunn Gelegenheit, die
beiden Besserungsanstalten, Flaktebjerg und Böggilgaard, zu beobachten.
Auf Grund seiner Beobachtung entscheidet sich der Verfasser für den vorzugs¬
weisen Werth der ländlichen Arbeit und er verlangt insbesondere einen
stufenweisen Uebergang zwischen Gefängniß und Freiheit, indem er betont,
daß die physische Entwickelung jugendlicher Personen ganz besonders ins
Auge gefaßt werden müsse. Nicht zu übersehen ist außerdem, was Brunn
gegen die Einzelhaft für jugendliche Verbrecher einwendet, nämlich die Rück¬
sicht auf die Geschlechtsentwickelung, welche in der Einzelhaft durch
die stärkere Erregung der Phantasie nur benachtheiligt werden könne." Hin¬
sichtlich der Einzelhaft für Erwachsene faßt Brunn sein Urtheil dahin zu¬
sammen: "Es ist meine volle Ueberzeugung, daß die Einzelhaft, ausgeführt
auf lange Zeit und nach dem absoluten System, bedeutende Gefahren für die
Gesundheit des Gefangenen in physischer Beziehung mit sich führt, Gefahren,
welche ich nach meiner Kenntniß für unabwendbar ansehe und noch nirgends
beseitigt gefunden habe." Als beachtenswerthe Erfahrung verzeichnet Brunn
ferner eine Aeußerung des Bußgefängniß-Directors von Christian!", der zu¬
folge Einzelhaft physische Entkräftung nach sich ziehe, welche sich bald ver¬
liere, wenn der Gefangene aus der Zelle entfernt werde. Nebenbei verdient
in Bezug auf jenes Gefängniß noch Erwähnung, daß der Procentsatz der
Rückfälligen auf 25 anzunehmen ist -- ein sehr ungünstiges Systemsergebniß,
wenn man es mit den Resultaten des Progressivsystems (in Irland etwa
7 Procent) vergleicht.

Wir gebrauchen hier den Ausdruck "Progressivsystem" als einen wissen¬
schaftlich gebräuchlich gewordene Terminus, welcher in aller Kürze ein
wesentliches Unterscheidungsmerkmal fixirt und vor der häufig gemachten
irrigen Voraussetzung behütet, daß man, das irische System anempfehlend,
jede einzelne technische Besonderheit desselben als unabänderlich feststehend
bezeichnen wolle. Dies wird den Befürwortern desselben häufig irrthüm¬
licher Weise Schuld gegeben, während die Absicht doch nur die sein konnte,
einerseits den Grundgedanken desselben, andererseits die Methodik des Systems
als wahrhafte Fortschritte zu empfehlen. Aber allerdings ist nach dem jetzigen
Standpunkt der Wissenschaft das in Irland gehandhabte System so sehr als


Stelle nicht eingegangen werden; hervorzuheben aber bleibt, daß der Ver¬
sasser nach genauen statistischen Vergleichungen der Ergebnisse sich sür das
Progressiv-System ausspricht. Seine Vorschläge lehnen sich im Einzelnen
meistens an das häufig geschilderte irische System an; volle Beachtung ver¬
dienen namentlich seine in einer Denkschrift an das Ministerium entwickelten
Reformvorschläge über die zweckmäßige Behandlung jugendlicher Verbrecher.
„Fast in unmittelbarer Nähe" (wir citiren hier die „Allg. Deutsch. Straf-
rechtszeitung") „gleichsam unter seinen Augen hatte Brunn Gelegenheit, die
beiden Besserungsanstalten, Flaktebjerg und Böggilgaard, zu beobachten.
Auf Grund seiner Beobachtung entscheidet sich der Verfasser für den vorzugs¬
weisen Werth der ländlichen Arbeit und er verlangt insbesondere einen
stufenweisen Uebergang zwischen Gefängniß und Freiheit, indem er betont,
daß die physische Entwickelung jugendlicher Personen ganz besonders ins
Auge gefaßt werden müsse. Nicht zu übersehen ist außerdem, was Brunn
gegen die Einzelhaft für jugendliche Verbrecher einwendet, nämlich die Rück¬
sicht auf die Geschlechtsentwickelung, welche in der Einzelhaft durch
die stärkere Erregung der Phantasie nur benachtheiligt werden könne." Hin¬
sichtlich der Einzelhaft für Erwachsene faßt Brunn sein Urtheil dahin zu¬
sammen: „Es ist meine volle Ueberzeugung, daß die Einzelhaft, ausgeführt
auf lange Zeit und nach dem absoluten System, bedeutende Gefahren für die
Gesundheit des Gefangenen in physischer Beziehung mit sich führt, Gefahren,
welche ich nach meiner Kenntniß für unabwendbar ansehe und noch nirgends
beseitigt gefunden habe." Als beachtenswerthe Erfahrung verzeichnet Brunn
ferner eine Aeußerung des Bußgefängniß-Directors von Christian!«, der zu¬
folge Einzelhaft physische Entkräftung nach sich ziehe, welche sich bald ver¬
liere, wenn der Gefangene aus der Zelle entfernt werde. Nebenbei verdient
in Bezug auf jenes Gefängniß noch Erwähnung, daß der Procentsatz der
Rückfälligen auf 25 anzunehmen ist — ein sehr ungünstiges Systemsergebniß,
wenn man es mit den Resultaten des Progressivsystems (in Irland etwa
7 Procent) vergleicht.

Wir gebrauchen hier den Ausdruck „Progressivsystem" als einen wissen¬
schaftlich gebräuchlich gewordene Terminus, welcher in aller Kürze ein
wesentliches Unterscheidungsmerkmal fixirt und vor der häufig gemachten
irrigen Voraussetzung behütet, daß man, das irische System anempfehlend,
jede einzelne technische Besonderheit desselben als unabänderlich feststehend
bezeichnen wolle. Dies wird den Befürwortern desselben häufig irrthüm¬
licher Weise Schuld gegeben, während die Absicht doch nur die sein konnte,
einerseits den Grundgedanken desselben, andererseits die Methodik des Systems
als wahrhafte Fortschritte zu empfehlen. Aber allerdings ist nach dem jetzigen
Standpunkt der Wissenschaft das in Irland gehandhabte System so sehr als


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0318" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287590"/>
          <p xml:id="ID_818" prev="#ID_817"> Stelle nicht eingegangen werden; hervorzuheben aber bleibt, daß der Ver¬<lb/>
sasser nach genauen statistischen Vergleichungen der Ergebnisse sich sür das<lb/>
Progressiv-System ausspricht. Seine Vorschläge lehnen sich im Einzelnen<lb/>
meistens an das häufig geschilderte irische System an; volle Beachtung ver¬<lb/>
dienen namentlich seine in einer Denkschrift an das Ministerium entwickelten<lb/>
Reformvorschläge über die zweckmäßige Behandlung jugendlicher Verbrecher.<lb/>
&#x201E;Fast in unmittelbarer Nähe" (wir citiren hier die &#x201E;Allg. Deutsch. Straf-<lb/>
rechtszeitung") &#x201E;gleichsam unter seinen Augen hatte Brunn Gelegenheit, die<lb/>
beiden Besserungsanstalten, Flaktebjerg und Böggilgaard, zu beobachten.<lb/>
Auf Grund seiner Beobachtung entscheidet sich der Verfasser für den vorzugs¬<lb/>
weisen Werth der ländlichen Arbeit und er verlangt insbesondere einen<lb/>
stufenweisen Uebergang zwischen Gefängniß und Freiheit, indem er betont,<lb/>
daß die physische Entwickelung jugendlicher Personen ganz besonders ins<lb/>
Auge gefaßt werden müsse. Nicht zu übersehen ist außerdem, was Brunn<lb/>
gegen die Einzelhaft für jugendliche Verbrecher einwendet, nämlich die Rück¬<lb/>
sicht auf die Geschlechtsentwickelung, welche in der Einzelhaft durch<lb/>
die stärkere Erregung der Phantasie nur benachtheiligt werden könne." Hin¬<lb/>
sichtlich der Einzelhaft für Erwachsene faßt Brunn sein Urtheil dahin zu¬<lb/>
sammen: &#x201E;Es ist meine volle Ueberzeugung, daß die Einzelhaft, ausgeführt<lb/>
auf lange Zeit und nach dem absoluten System, bedeutende Gefahren für die<lb/>
Gesundheit des Gefangenen in physischer Beziehung mit sich führt, Gefahren,<lb/>
welche ich nach meiner Kenntniß für unabwendbar ansehe und noch nirgends<lb/>
beseitigt gefunden habe." Als beachtenswerthe Erfahrung verzeichnet Brunn<lb/>
ferner eine Aeußerung des Bußgefängniß-Directors von Christian!«, der zu¬<lb/>
folge Einzelhaft physische Entkräftung nach sich ziehe, welche sich bald ver¬<lb/>
liere, wenn der Gefangene aus der Zelle entfernt werde. Nebenbei verdient<lb/>
in Bezug auf jenes Gefängniß noch Erwähnung, daß der Procentsatz der<lb/>
Rückfälligen auf 25 anzunehmen ist &#x2014; ein sehr ungünstiges Systemsergebniß,<lb/>
wenn man es mit den Resultaten des Progressivsystems (in Irland etwa<lb/>
7 Procent) vergleicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_819" next="#ID_820"> Wir gebrauchen hier den Ausdruck &#x201E;Progressivsystem" als einen wissen¬<lb/>
schaftlich gebräuchlich gewordene Terminus, welcher in aller Kürze ein<lb/>
wesentliches Unterscheidungsmerkmal fixirt und vor der häufig gemachten<lb/>
irrigen Voraussetzung behütet, daß man, das irische System anempfehlend,<lb/>
jede einzelne technische Besonderheit desselben als unabänderlich feststehend<lb/>
bezeichnen wolle. Dies wird den Befürwortern desselben häufig irrthüm¬<lb/>
licher Weise Schuld gegeben, während die Absicht doch nur die sein konnte,<lb/>
einerseits den Grundgedanken desselben, andererseits die Methodik des Systems<lb/>
als wahrhafte Fortschritte zu empfehlen. Aber allerdings ist nach dem jetzigen<lb/>
Standpunkt der Wissenschaft das in Irland gehandhabte System so sehr als</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0318] Stelle nicht eingegangen werden; hervorzuheben aber bleibt, daß der Ver¬ sasser nach genauen statistischen Vergleichungen der Ergebnisse sich sür das Progressiv-System ausspricht. Seine Vorschläge lehnen sich im Einzelnen meistens an das häufig geschilderte irische System an; volle Beachtung ver¬ dienen namentlich seine in einer Denkschrift an das Ministerium entwickelten Reformvorschläge über die zweckmäßige Behandlung jugendlicher Verbrecher. „Fast in unmittelbarer Nähe" (wir citiren hier die „Allg. Deutsch. Straf- rechtszeitung") „gleichsam unter seinen Augen hatte Brunn Gelegenheit, die beiden Besserungsanstalten, Flaktebjerg und Böggilgaard, zu beobachten. Auf Grund seiner Beobachtung entscheidet sich der Verfasser für den vorzugs¬ weisen Werth der ländlichen Arbeit und er verlangt insbesondere einen stufenweisen Uebergang zwischen Gefängniß und Freiheit, indem er betont, daß die physische Entwickelung jugendlicher Personen ganz besonders ins Auge gefaßt werden müsse. Nicht zu übersehen ist außerdem, was Brunn gegen die Einzelhaft für jugendliche Verbrecher einwendet, nämlich die Rück¬ sicht auf die Geschlechtsentwickelung, welche in der Einzelhaft durch die stärkere Erregung der Phantasie nur benachtheiligt werden könne." Hin¬ sichtlich der Einzelhaft für Erwachsene faßt Brunn sein Urtheil dahin zu¬ sammen: „Es ist meine volle Ueberzeugung, daß die Einzelhaft, ausgeführt auf lange Zeit und nach dem absoluten System, bedeutende Gefahren für die Gesundheit des Gefangenen in physischer Beziehung mit sich führt, Gefahren, welche ich nach meiner Kenntniß für unabwendbar ansehe und noch nirgends beseitigt gefunden habe." Als beachtenswerthe Erfahrung verzeichnet Brunn ferner eine Aeußerung des Bußgefängniß-Directors von Christian!«, der zu¬ folge Einzelhaft physische Entkräftung nach sich ziehe, welche sich bald ver¬ liere, wenn der Gefangene aus der Zelle entfernt werde. Nebenbei verdient in Bezug auf jenes Gefängniß noch Erwähnung, daß der Procentsatz der Rückfälligen auf 25 anzunehmen ist — ein sehr ungünstiges Systemsergebniß, wenn man es mit den Resultaten des Progressivsystems (in Irland etwa 7 Procent) vergleicht. Wir gebrauchen hier den Ausdruck „Progressivsystem" als einen wissen¬ schaftlich gebräuchlich gewordene Terminus, welcher in aller Kürze ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal fixirt und vor der häufig gemachten irrigen Voraussetzung behütet, daß man, das irische System anempfehlend, jede einzelne technische Besonderheit desselben als unabänderlich feststehend bezeichnen wolle. Dies wird den Befürwortern desselben häufig irrthüm¬ licher Weise Schuld gegeben, während die Absicht doch nur die sein konnte, einerseits den Grundgedanken desselben, andererseits die Methodik des Systems als wahrhafte Fortschritte zu empfehlen. Aber allerdings ist nach dem jetzigen Standpunkt der Wissenschaft das in Irland gehandhabte System so sehr als

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/318
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/318>, abgerufen am 06.02.2025.