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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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angekommen waren, meine mißliche Lage sahen, die Pferde anhielten und
mich herunter nahmen. Meine Ketten hinderten mich an jeder Art von
Selbsthilfe. Merkwürdigerweise blieb ich unbeschädigt; sogar meine Kleidung
war nicht zerrissen worden. Der Wagen wurde reparirt und nach einer
Stunde gelangten wir endlich an das Ziel unserer Reise, in das Gefängniß
von Tschita, ein von einem Zaune umgebenes Holzhäuschen. Wir hofften,
einige unserer Kameraden, die vor uns aus Petersburg abgefertigt worden
waren, vorzufinden; aber diese bewohnten ein anderes temporäres Gefäng¬
niß, in welchem für uns kein Platz war, da dasselbe nur 24 Mann be¬
herbergen konnte. --

Wir wurden von dem Capitän eines Linienbataillons, einem Platz¬
adjutanten, einem Schreiber und einigen Schildwachen in Empfang ge¬
nommen. Der Capitän fragte, ob wir Geld oder Kostbarkeiten bei uns
führten, die streng verboten seien. -- Ich nahm sogleich die seidene Schnur
von meinem Halse, an welcher ein eingefaßtes Portrait meiner Frau, ein
Medaillon mit den Locken meiner Eltern und ein Päckchen Staub der heimath¬
lichen Erde hingen. AIs ich diese Sachen dem Capitän einhändigte, be¬
merkte er an meinem Finger einen goldenen Ring und rief mit Stentor¬
stimme: "Was hast Du da an dem Finger?" "Meinen Trauring." "Her¬
unter damit!" Ich entgegnete ihm höflich, daß man mir den Trauring im
Winterpalaste und in der Festung gelassen habe und daß das Tragen eines
solchen nicht verboten sei. -- "Herunter damit, sage ich Dir!" kreischte der
rohe Mensch noch einmal. Ich antwortete ihm mit vornehmer Ruhe: "Neh¬
men Sie den Ring mit dem Finger zusammen" -- kreuzte meine Arme über
die Brust und lehnte mich kaltblütig an den Ofen. -- Der Adjutant gab
dem Capitän keine Zeit, ein Wort zu sagen, flüsterte ihm etwas ins Ohr, nahm
unsere Kostbarkeiten zusammen und entfernte sich. Unterdessen untersuchte
ein Schreiber unsere Reisesacke und Bücher und notirte alle Sachen. Nach
einer halben Stunde kehrte der Adjutant mit der Anzeige zurück, daß der
Commandant mir das Portrait meiner Frau zurücksende und mir den Trau¬
ring zu tragen gestatte; die übrigen Andenken sollten sorgsam in der Canzlei
aufbewahrt bleiben. -- So endete unser Empfang. Von dieser Stunde an,
während meines ganzen Aufenthaltes in Tschita und später im Gefängniß von
Petrowsky, benahm sich der Capitän Stepanow übrigens sehr höflich gegen mich.

Anderen Tags besuchte uns unser Commandant Se. R. Leparsky, ein
uralter Cavallerieofficier, der Jahrzehnte lang das Sewer'sche reitende Jäger¬
regiment befehligt hatte, dessen Chef der Großfürst Nikolaus gewesen war
ehe er Kaiser wurde. Wenn in anderen Regimentern Unannehmlichkeiten
vorfielen, in Folge deren man Officiere versetzen mußte, so wurden die so¬
genannten unruhigen Köpfe stets in Leparsky's Regiment übergeführt, der mit


angekommen waren, meine mißliche Lage sahen, die Pferde anhielten und
mich herunter nahmen. Meine Ketten hinderten mich an jeder Art von
Selbsthilfe. Merkwürdigerweise blieb ich unbeschädigt; sogar meine Kleidung
war nicht zerrissen worden. Der Wagen wurde reparirt und nach einer
Stunde gelangten wir endlich an das Ziel unserer Reise, in das Gefängniß
von Tschita, ein von einem Zaune umgebenes Holzhäuschen. Wir hofften,
einige unserer Kameraden, die vor uns aus Petersburg abgefertigt worden
waren, vorzufinden; aber diese bewohnten ein anderes temporäres Gefäng¬
niß, in welchem für uns kein Platz war, da dasselbe nur 24 Mann be¬
herbergen konnte. —

Wir wurden von dem Capitän eines Linienbataillons, einem Platz¬
adjutanten, einem Schreiber und einigen Schildwachen in Empfang ge¬
nommen. Der Capitän fragte, ob wir Geld oder Kostbarkeiten bei uns
führten, die streng verboten seien. — Ich nahm sogleich die seidene Schnur
von meinem Halse, an welcher ein eingefaßtes Portrait meiner Frau, ein
Medaillon mit den Locken meiner Eltern und ein Päckchen Staub der heimath¬
lichen Erde hingen. AIs ich diese Sachen dem Capitän einhändigte, be¬
merkte er an meinem Finger einen goldenen Ring und rief mit Stentor¬
stimme: „Was hast Du da an dem Finger?" „Meinen Trauring." „Her¬
unter damit!" Ich entgegnete ihm höflich, daß man mir den Trauring im
Winterpalaste und in der Festung gelassen habe und daß das Tragen eines
solchen nicht verboten sei. — „Herunter damit, sage ich Dir!" kreischte der
rohe Mensch noch einmal. Ich antwortete ihm mit vornehmer Ruhe: „Neh¬
men Sie den Ring mit dem Finger zusammen" — kreuzte meine Arme über
die Brust und lehnte mich kaltblütig an den Ofen. — Der Adjutant gab
dem Capitän keine Zeit, ein Wort zu sagen, flüsterte ihm etwas ins Ohr, nahm
unsere Kostbarkeiten zusammen und entfernte sich. Unterdessen untersuchte
ein Schreiber unsere Reisesacke und Bücher und notirte alle Sachen. Nach
einer halben Stunde kehrte der Adjutant mit der Anzeige zurück, daß der
Commandant mir das Portrait meiner Frau zurücksende und mir den Trau¬
ring zu tragen gestatte; die übrigen Andenken sollten sorgsam in der Canzlei
aufbewahrt bleiben. — So endete unser Empfang. Von dieser Stunde an,
während meines ganzen Aufenthaltes in Tschita und später im Gefängniß von
Petrowsky, benahm sich der Capitän Stepanow übrigens sehr höflich gegen mich.

Anderen Tags besuchte uns unser Commandant Se. R. Leparsky, ein
uralter Cavallerieofficier, der Jahrzehnte lang das Sewer'sche reitende Jäger¬
regiment befehligt hatte, dessen Chef der Großfürst Nikolaus gewesen war
ehe er Kaiser wurde. Wenn in anderen Regimentern Unannehmlichkeiten
vorfielen, in Folge deren man Officiere versetzen mußte, so wurden die so¬
genannten unruhigen Köpfe stets in Leparsky's Regiment übergeführt, der mit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/284>, abgerufen am 05.02.2025.