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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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mit denen eine reformatorische Regierung in dem Vaterlande der kirchlichen
Verdummung und des Vorurtheils zu kämpfen hat. Vielleicht nur Rusland
ausgenommen gibt es in Europa keinen Staat, in welchem die Kluft so tief
wäre, welche die gebildeten Classen, ihre Anschauungen, Wünsche und Be¬
strebungen von denen der Volksmassen trennte, und jenes Bild von dem im
Koth steckenden Wagen, den die Deichselpferde nicht fortschleppen können,
weil der Vorreiter die Stränge der Spitzpferde gelöst und mit ihnen davon
geritten ist, das ein russischer Schriftsteller von seinem Vaterlande brauchte --
gilt für Spanien vielleicht noch mehr als für die große Monarchie des Nord¬
ostens. Wo die Einen Schatten sehen, scheint den Andern goldnes Licht. Die
Bildung der liberalen Mittelelassen ist der des Landvolks und der städtischen
Massen um ein Jahrhundert vorausgeeilt und bei jeder Gelegenheit treten
die Schwierigkeiten einer auch nur annähernden Verständigung hervor. So
erbittert die Nation auch gegen die mit der Exkönigin verbündet gewesene
Geistlichkeit ist, eine wirkliche Antastung der Machtstellung derselben macht
ihr jedesmal ernsthafte Scrupel und auf ihre exclusive Katholicität will sie
schlechterdings nicht Verzicht leisten. Die Schließung einer größeren Anzahl
Klöster, wie die provisorische Regierung sie beschlossen, gilt mit Recht für
ein gefährliches Experiment und vor der consequenten Durchführung des
Prinzips der Toleranz und Gewissensfreiheit beben auch die entschlossensten
Progressisten zurück, weil sie mit einem Fehdehandschuh gegen den Volks-
instinct identisch wäre. Aehnlich steht es auf wirthschaftlichem Gebiet. Daß
nur eine vollständige Entfesselung der Concurrenz und aller Productions-
kräfte zur Hebung des tiefzerrütteten spanischen Nationalwohlstandes führen
könne, steht für alle Kundigen fest; nichtsdestoweniger hat die schüchterne
Herabsetzung der Zölle in Catalonien und andern Districten, welche sich sür
industrielle halten, den lebhaftesten Unwillen und ernstliche Verstimmung gegen
die neuen Machthaber bewirkt. "Die spanische Nation" schrieb der preußische
Staatskanzler Fürst Hardenberg am 16. März 1815 "hat einen so absonder¬
lichen und scharf ausgeprägten Charakter, daß man sie nicht nach den übrigen
europäischen Nationen beurtheilen darf; sie hängt an Einrichtungen, welche
die öffentliche Meinung in der ganzen übrigen Welt verurtheilt hat, an
Ideen, welche alle übrigen Völker längst abgeschüttelt haben" (Baumgarten,
Gesch. Spaniens II, S. 149). Dieses vor einem halben Jahrhundert gesprochene
Wort hat noch heute seine Bedeutung. Gerade wie damals liegt noch heute
die Gefahr nah, daß der spanische Liberalismus die ihm zur Seite stehenden
Chancen des Augenblicks so aufhenke, daß er sich von dem Volk isolirt und
dieses der Reaction in die Arme treibt. So zweifellos feststeht, daß dem
Elend dieses Staats und seiner Bewohner nur durch eine gründliche und
unerschrockene Reform auf allen Lebensgebieren geholfen werden könne, so


mit denen eine reformatorische Regierung in dem Vaterlande der kirchlichen
Verdummung und des Vorurtheils zu kämpfen hat. Vielleicht nur Rusland
ausgenommen gibt es in Europa keinen Staat, in welchem die Kluft so tief
wäre, welche die gebildeten Classen, ihre Anschauungen, Wünsche und Be¬
strebungen von denen der Volksmassen trennte, und jenes Bild von dem im
Koth steckenden Wagen, den die Deichselpferde nicht fortschleppen können,
weil der Vorreiter die Stränge der Spitzpferde gelöst und mit ihnen davon
geritten ist, das ein russischer Schriftsteller von seinem Vaterlande brauchte —
gilt für Spanien vielleicht noch mehr als für die große Monarchie des Nord¬
ostens. Wo die Einen Schatten sehen, scheint den Andern goldnes Licht. Die
Bildung der liberalen Mittelelassen ist der des Landvolks und der städtischen
Massen um ein Jahrhundert vorausgeeilt und bei jeder Gelegenheit treten
die Schwierigkeiten einer auch nur annähernden Verständigung hervor. So
erbittert die Nation auch gegen die mit der Exkönigin verbündet gewesene
Geistlichkeit ist, eine wirkliche Antastung der Machtstellung derselben macht
ihr jedesmal ernsthafte Scrupel und auf ihre exclusive Katholicität will sie
schlechterdings nicht Verzicht leisten. Die Schließung einer größeren Anzahl
Klöster, wie die provisorische Regierung sie beschlossen, gilt mit Recht für
ein gefährliches Experiment und vor der consequenten Durchführung des
Prinzips der Toleranz und Gewissensfreiheit beben auch die entschlossensten
Progressisten zurück, weil sie mit einem Fehdehandschuh gegen den Volks-
instinct identisch wäre. Aehnlich steht es auf wirthschaftlichem Gebiet. Daß
nur eine vollständige Entfesselung der Concurrenz und aller Productions-
kräfte zur Hebung des tiefzerrütteten spanischen Nationalwohlstandes führen
könne, steht für alle Kundigen fest; nichtsdestoweniger hat die schüchterne
Herabsetzung der Zölle in Catalonien und andern Districten, welche sich sür
industrielle halten, den lebhaftesten Unwillen und ernstliche Verstimmung gegen
die neuen Machthaber bewirkt. „Die spanische Nation" schrieb der preußische
Staatskanzler Fürst Hardenberg am 16. März 1815 „hat einen so absonder¬
lichen und scharf ausgeprägten Charakter, daß man sie nicht nach den übrigen
europäischen Nationen beurtheilen darf; sie hängt an Einrichtungen, welche
die öffentliche Meinung in der ganzen übrigen Welt verurtheilt hat, an
Ideen, welche alle übrigen Völker längst abgeschüttelt haben" (Baumgarten,
Gesch. Spaniens II, S. 149). Dieses vor einem halben Jahrhundert gesprochene
Wort hat noch heute seine Bedeutung. Gerade wie damals liegt noch heute
die Gefahr nah, daß der spanische Liberalismus die ihm zur Seite stehenden
Chancen des Augenblicks so aufhenke, daß er sich von dem Volk isolirt und
dieses der Reaction in die Arme treibt. So zweifellos feststeht, daß dem
Elend dieses Staats und seiner Bewohner nur durch eine gründliche und
unerschrockene Reform auf allen Lebensgebieren geholfen werden könne, so


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/204>, abgerufen am 05.02.2025.