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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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kein Fest." "Warum seid Ihr denn neu gekleidet?" "Heute ist die Beer¬
digung des Kaisers Alexander." Alles war einförmig und still um mich
herum, wie immer; die breiten Festungsmauern mit Erd- und Rasenbedeckung
ließen keinen Laut erschallen, nur durch die Schießscharte und das ver¬
gitterte Fenster drang bisweilen das Geläute des Glockenspiels. Plötzlich am
Nachmittag donnerte ein Kanonenschuß, ein zweiter, unzählige -- das war
das Ende der Trauereeremonie.

Da alle Winkel und Ecken in der Festung mit Arrestanten gefüllt
waren, so konnte man sie der großen Zahl wegen nicht oft in die Badstube
führen. Die Reihe dazu kam an mich zum erstenmale Mitte April. Der Schnee
war verschwunden, das Wetter schön; ein Geleite führte mich ab, die Augen
wurden mir nicht mehr verbunden. Als ich aus dem dunkeln Corridor über die
Schwelle der Außenthüre trat, wurden meine Augen von den Sonnenstrahlen
so heftig geblendet, daß ich stehen blieb und unwillkürlich meine Augen
mit der Hand bedeckte. Allmählich nahm ich die Hand ab und ging weiter;
die Erde schien unter meinen Füßen zu wanken, die frische Luft benahm mir
den Athem. Längst' der inneren Mauer der Kronwerkschen Kurtine, an einer
langen Reihe von Fenstern vorübergehend, konnte ich Niemand von meinen
Kameraden sehen, weil die Fensterscheiben mit Kreide bestrichen waren. Als ich
mich rechts wandte, längs der anderen Kurtine, wo in der Mitte das Haupt¬
thor der Festung ist, sah ich über dem Thor ein Fenster, und erkannte M. F.
Orlow, der am Fenster sitzend schrieb. -- Nicht weit von der Pforte stand
eine Unteroffizierswache; ich freute mich, als ich meine Soldaten erkannte;
sie eilten sogleich auf die Plattform und antworteten ebenso laut und freudig
auf meinen Gruß, wie sie es früher vor jedem Exercitium gethan hatten. --
Die Badstube war geräumig, das Bad stärkte und erfrischte mich. Bei
meiner Rückkehr bemerkte ich neben der Wache meinen Diener Michail stehen,
der durch eigenthümliche Bewegungen und Pantomimen meine Aufmerksam¬
keit auf sich zu ziehen suchte. -- "Ist auch Anna Wassiliewna (meine Frau)
gesund?" fragte ich. -- "Sie war eben hier in der Kirche und kommt jetzt
die Allee herunter." --Ich verdoppelte meine Schritte, und sah sie, wie sie
langsam einherschritt, ungefähr zweihundert Schritte von mir entfernt; ich
wollte zu ihr eilen, aber ich bedachte, daß sie ihrer Entbindung entgegen
ginge und erschrecken könnte; auch fürchtete ich die Verantwortung meines
Geleites -- ich konnte ihr nur mit der Hand meine Grüße zuwinken, und
ging weiter. In mein Gefängniß zurückgekehrt, fand ich es noch dunkler,
als früher, sodaß ich weder Tisch noch Bank unterscheiden konnte, ich sah
nur die weiße Kante der grauen Bettdecke.

In der Charwoche hatte der Kaiser erlaubt, den Arrestanten Bücher
geistlichen Inhalts, Tabak und Pfeifen zukommen zu lassen. Das war ein


kein Fest." „Warum seid Ihr denn neu gekleidet?« „Heute ist die Beer¬
digung des Kaisers Alexander." Alles war einförmig und still um mich
herum, wie immer; die breiten Festungsmauern mit Erd- und Rasenbedeckung
ließen keinen Laut erschallen, nur durch die Schießscharte und das ver¬
gitterte Fenster drang bisweilen das Geläute des Glockenspiels. Plötzlich am
Nachmittag donnerte ein Kanonenschuß, ein zweiter, unzählige — das war
das Ende der Trauereeremonie.

Da alle Winkel und Ecken in der Festung mit Arrestanten gefüllt
waren, so konnte man sie der großen Zahl wegen nicht oft in die Badstube
führen. Die Reihe dazu kam an mich zum erstenmale Mitte April. Der Schnee
war verschwunden, das Wetter schön; ein Geleite führte mich ab, die Augen
wurden mir nicht mehr verbunden. Als ich aus dem dunkeln Corridor über die
Schwelle der Außenthüre trat, wurden meine Augen von den Sonnenstrahlen
so heftig geblendet, daß ich stehen blieb und unwillkürlich meine Augen
mit der Hand bedeckte. Allmählich nahm ich die Hand ab und ging weiter;
die Erde schien unter meinen Füßen zu wanken, die frische Luft benahm mir
den Athem. Längst' der inneren Mauer der Kronwerkschen Kurtine, an einer
langen Reihe von Fenstern vorübergehend, konnte ich Niemand von meinen
Kameraden sehen, weil die Fensterscheiben mit Kreide bestrichen waren. Als ich
mich rechts wandte, längs der anderen Kurtine, wo in der Mitte das Haupt¬
thor der Festung ist, sah ich über dem Thor ein Fenster, und erkannte M. F.
Orlow, der am Fenster sitzend schrieb. — Nicht weit von der Pforte stand
eine Unteroffizierswache; ich freute mich, als ich meine Soldaten erkannte;
sie eilten sogleich auf die Plattform und antworteten ebenso laut und freudig
auf meinen Gruß, wie sie es früher vor jedem Exercitium gethan hatten. —
Die Badstube war geräumig, das Bad stärkte und erfrischte mich. Bei
meiner Rückkehr bemerkte ich neben der Wache meinen Diener Michail stehen,
der durch eigenthümliche Bewegungen und Pantomimen meine Aufmerksam¬
keit auf sich zu ziehen suchte. — „Ist auch Anna Wassiliewna (meine Frau)
gesund?" fragte ich. — „Sie war eben hier in der Kirche und kommt jetzt
die Allee herunter." —Ich verdoppelte meine Schritte, und sah sie, wie sie
langsam einherschritt, ungefähr zweihundert Schritte von mir entfernt; ich
wollte zu ihr eilen, aber ich bedachte, daß sie ihrer Entbindung entgegen
ginge und erschrecken könnte; auch fürchtete ich die Verantwortung meines
Geleites — ich konnte ihr nur mit der Hand meine Grüße zuwinken, und
ging weiter. In mein Gefängniß zurückgekehrt, fand ich es noch dunkler,
als früher, sodaß ich weder Tisch noch Bank unterscheiden konnte, ich sah
nur die weiße Kante der grauen Bettdecke.

In der Charwoche hatte der Kaiser erlaubt, den Arrestanten Bücher
geistlichen Inhalts, Tabak und Pfeifen zukommen zu lassen. Das war ein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/191>, abgerufen am 05.02.2025.