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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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offene Geständniß, er befahl, den Obristen nicht in die Casemcitten der
Festung einzuschließen, wo wir Uebrigen uns befanden, sondern ihn in
der eigenen Wohnung des Festungscommandanten unterzubringen. Einige
Wochen später brachte sich Bularow durch Hunger um; er überstand den
schrecklichsten Kampf mit sich selbst, indem er alle Speisen zurückwies, als seine
Fingernagel bereits vor Hunger zerbissen waren. Von einem solchen Manne
durfte man erwarten, daß er seinen Vorsatz ausführen würde.




Varnhagen's Glätter aus der preußischen Geschichte (1819--1823).

Aus dem Nachlaß Barnhagen's von Ense. Blätter aus der preußischen Geschichte.
2 Bände (Leipzig bei F. A. Brockhaus 1868).

Barnhagen's vielbändige Hinterlassenschaften haben, wesentlich durch die
Schuld der Herausgeberin Ludmilla Ussing, das umgekehrte Schicksal gehabt,
wie weiland die MMnischen Bücher: je mehr ihrer wurden, desto rascher
fielen sie im Preise. Die Veröffentlichung des Briefwechsels mit Alexander
von Humboldt galt ihrer Zeit für ein literarisches Ereigniß, die im vorigen
Jahre herausgegebenen Briefe von Tieck, Chamisso, dem Prinzen Louis Ferdi¬
nand u. s. w. wurden kaum beachtet, weil sie an das Interesse des Puhu.
anas für literarischen Klatsch und Scandal allzu große Anforderungen
stellten.

Anders steht es mit den beiden Bänden aus Barnhagen's Nachlaß,
welche uns gegenwärtig vorliegen und von denen nur zu bedauern ist, daß
sie nicht an die Spitze der gesammten Publication gestellt worden sind. Sie
behandeln einen Zeitabschnitt, in welchem die zufälligen Aufzeichnungen eines
im Brennpunkt der Ereignisse stehenden Zeugen ungleich höheren Werth
haben, als in der nachfolgenden Periode. Der Inhalt der "Tagebücher"
behandelte einen Stoff, für den es an anderen und besseren Quellen keines¬
wegs fehlte; die wichtigeren Ereignisse waren zum großen Theil von der
Tagespresse ausführlich behandelt und zwar in einer Weise behandelt wor¬
den, welche von der grämlichen, verbissenen und einseitigen Art des isolirten
und alternden Tagebuchschreibers vortheilhaft verschieden war. -- was der
Tagespresse entgangen, verdiente entweder überhaupt keine Berücksichtigung,
oder doch nicht die Art von Berücksichtigung, welche Varnhagen ihr ange-
deihen ließ, indem er nahezu Alles, was mit seiner Verstimmung gegen das
herrschende System und dessen Vertreter zusammentraf, für baare Münze
nahm.*


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offene Geständniß, er befahl, den Obristen nicht in die Casemcitten der
Festung einzuschließen, wo wir Uebrigen uns befanden, sondern ihn in
der eigenen Wohnung des Festungscommandanten unterzubringen. Einige
Wochen später brachte sich Bularow durch Hunger um; er überstand den
schrecklichsten Kampf mit sich selbst, indem er alle Speisen zurückwies, als seine
Fingernagel bereits vor Hunger zerbissen waren. Von einem solchen Manne
durfte man erwarten, daß er seinen Vorsatz ausführen würde.




Varnhagen's Glätter aus der preußischen Geschichte (1819—1823).

Aus dem Nachlaß Barnhagen's von Ense. Blätter aus der preußischen Geschichte.
2 Bände (Leipzig bei F. A. Brockhaus 1868).

Barnhagen's vielbändige Hinterlassenschaften haben, wesentlich durch die
Schuld der Herausgeberin Ludmilla Ussing, das umgekehrte Schicksal gehabt,
wie weiland die MMnischen Bücher: je mehr ihrer wurden, desto rascher
fielen sie im Preise. Die Veröffentlichung des Briefwechsels mit Alexander
von Humboldt galt ihrer Zeit für ein literarisches Ereigniß, die im vorigen
Jahre herausgegebenen Briefe von Tieck, Chamisso, dem Prinzen Louis Ferdi¬
nand u. s. w. wurden kaum beachtet, weil sie an das Interesse des Puhu.
anas für literarischen Klatsch und Scandal allzu große Anforderungen
stellten.

Anders steht es mit den beiden Bänden aus Barnhagen's Nachlaß,
welche uns gegenwärtig vorliegen und von denen nur zu bedauern ist, daß
sie nicht an die Spitze der gesammten Publication gestellt worden sind. Sie
behandeln einen Zeitabschnitt, in welchem die zufälligen Aufzeichnungen eines
im Brennpunkt der Ereignisse stehenden Zeugen ungleich höheren Werth
haben, als in der nachfolgenden Periode. Der Inhalt der „Tagebücher"
behandelte einen Stoff, für den es an anderen und besseren Quellen keines¬
wegs fehlte; die wichtigeren Ereignisse waren zum großen Theil von der
Tagespresse ausführlich behandelt und zwar in einer Weise behandelt wor¬
den, welche von der grämlichen, verbissenen und einseitigen Art des isolirten
und alternden Tagebuchschreibers vortheilhaft verschieden war. — was der
Tagespresse entgangen, verdiente entweder überhaupt keine Berücksichtigung,
oder doch nicht die Art von Berücksichtigung, welche Varnhagen ihr ange-
deihen ließ, indem er nahezu Alles, was mit seiner Verstimmung gegen das
herrschende System und dessen Vertreter zusammentraf, für baare Münze
nahm.*


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/129>, abgerufen am 05.02.2025.