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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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Untersuchungen beweisen und im Wesentlichen wird der Unterschied nur der
sein, daß vor 1832 der Kandidat dem Besitzer des Wahlfleckens eine runde
Summe zahlte, während er jetzt den verschiedenen Personen, welche wahlbe¬
rechtigt sind, kleinere Summen oder auch nur frei Bier gibt.

Diese Mängel wurden gleich bei Erlaß der Neformacte hervorgehoben und
vorausgesagt, andere haben sich erst später mehr und mehr herausgestellt.
Es liegt einmal im System der parlamentarischen Regierung, wie sie sich
in England gebildet hat, daß nicht blos die Minister, sondern auch die
Unterstaalssecretäre, Kronanwälte u. s. w. Mitglieder eines der beiden
Häuser sein müssen; die Minister selbst sind allerdings meist bekannt genug,
um einer Wahl sicher zu sein, es macht aber nach Abschaffung der Regierungs¬
wahlflecken oft erhebliche Schwierigkeiten, um für jüngere Leute, welche vor¬
trefflich als Verwaltungsbeamte, aber politisch unbekannt sind, einen Sitz im
Unterhause zu finden. Die Minister müssen daher nehmen nicht wen sie für den
tauglichsten halten, sondern wen sie bekommen können. Auch kann nicht geleugnet
werden, daß mit der Reformbill eine Zersetzung der Parteien begonnen hat*),
welche oft das parlamentarische Regiment überhaupt in Frage zu stellen
drohte; wir haben es seitdem mehrmals erlebt, daß ein Ministerium nicht
leben und nicht sterben konnte; hat sich doch auch gegenwärtig das Disraeli-
sche Cabinet. obwohl in der Minorität, behauptet, weil die Opposition zu
uneinig war, um ein anderes aus ihrer Mitte zu bilden. Dies ist eine be¬
denkliche Erscheinung in einem Lande, wo keine unabhängige königliche Ge¬
walt neben, der Legislative steht und wo die Regierung nur dadurch stark
ist, daß die Minister im Parlament hinreichende Autorität haben, um den
Gang der Geschäfte zu leiten. Je schwächer ein Ministerium ist, desto weniger
wird es die Verantwortlichkeit großer Maßregeln auf sich nehmen wollen,
sondern geneigt sein, sie auf das Parlament abzuwälzen, wodurch die Verant¬
wortlichkeit illusorisch wird, weil eine große Versammlung, welche nicht ge¬
führt wird, unsicher in ihrem Verfahren und unstät in ihren Beschlüssen ist.
Und mit dieser Zerfahrenheit der Parteien hat die Tüchtigkeit ihrer Führer
abgenommen, die Zeit von 1832--60 hat wesentlich von den Staatsmännern
gelebt, welche schon vorher "auf die Bühne getreten waren, wie sehr aber
mangelt es an Nachwuchs! Die Mittelclassen haben wenig Männer von
Bedeutung und keinen einzigen Staatsmann in großem Stil hervorgebracht.

Wir sind weit entfernt, der Reformbill allein die Schuld dieser Uebel¬
stände zuzuschreiben und verkennen keineswegs, daß sie, wie einmal die sieu-



") Von Bedeutung ist in dieser Beziehung übrigens auch die Katholikcnemcmcivation ge¬
blieben, denn die Jrlänoer, welchen durch sie das Parlament geöffnet ward, haben sich nicht
den bestehenden Parteien eingefügt, sondern stimmen je nach ihren Particulcinntercssen mit der
einen oder andern.
Grenzboten IV. 18K8. 12

Untersuchungen beweisen und im Wesentlichen wird der Unterschied nur der
sein, daß vor 1832 der Kandidat dem Besitzer des Wahlfleckens eine runde
Summe zahlte, während er jetzt den verschiedenen Personen, welche wahlbe¬
rechtigt sind, kleinere Summen oder auch nur frei Bier gibt.

Diese Mängel wurden gleich bei Erlaß der Neformacte hervorgehoben und
vorausgesagt, andere haben sich erst später mehr und mehr herausgestellt.
Es liegt einmal im System der parlamentarischen Regierung, wie sie sich
in England gebildet hat, daß nicht blos die Minister, sondern auch die
Unterstaalssecretäre, Kronanwälte u. s. w. Mitglieder eines der beiden
Häuser sein müssen; die Minister selbst sind allerdings meist bekannt genug,
um einer Wahl sicher zu sein, es macht aber nach Abschaffung der Regierungs¬
wahlflecken oft erhebliche Schwierigkeiten, um für jüngere Leute, welche vor¬
trefflich als Verwaltungsbeamte, aber politisch unbekannt sind, einen Sitz im
Unterhause zu finden. Die Minister müssen daher nehmen nicht wen sie für den
tauglichsten halten, sondern wen sie bekommen können. Auch kann nicht geleugnet
werden, daß mit der Reformbill eine Zersetzung der Parteien begonnen hat*),
welche oft das parlamentarische Regiment überhaupt in Frage zu stellen
drohte; wir haben es seitdem mehrmals erlebt, daß ein Ministerium nicht
leben und nicht sterben konnte; hat sich doch auch gegenwärtig das Disraeli-
sche Cabinet. obwohl in der Minorität, behauptet, weil die Opposition zu
uneinig war, um ein anderes aus ihrer Mitte zu bilden. Dies ist eine be¬
denkliche Erscheinung in einem Lande, wo keine unabhängige königliche Ge¬
walt neben, der Legislative steht und wo die Regierung nur dadurch stark
ist, daß die Minister im Parlament hinreichende Autorität haben, um den
Gang der Geschäfte zu leiten. Je schwächer ein Ministerium ist, desto weniger
wird es die Verantwortlichkeit großer Maßregeln auf sich nehmen wollen,
sondern geneigt sein, sie auf das Parlament abzuwälzen, wodurch die Verant¬
wortlichkeit illusorisch wird, weil eine große Versammlung, welche nicht ge¬
führt wird, unsicher in ihrem Verfahren und unstät in ihren Beschlüssen ist.
Und mit dieser Zerfahrenheit der Parteien hat die Tüchtigkeit ihrer Führer
abgenommen, die Zeit von 1832—60 hat wesentlich von den Staatsmännern
gelebt, welche schon vorher „auf die Bühne getreten waren, wie sehr aber
mangelt es an Nachwuchs! Die Mittelclassen haben wenig Männer von
Bedeutung und keinen einzigen Staatsmann in großem Stil hervorgebracht.

Wir sind weit entfernt, der Reformbill allein die Schuld dieser Uebel¬
stände zuzuschreiben und verkennen keineswegs, daß sie, wie einmal die sieu-



") Von Bedeutung ist in dieser Beziehung übrigens auch die Katholikcnemcmcivation ge¬
blieben, denn die Jrlänoer, welchen durch sie das Parlament geöffnet ward, haben sich nicht
den bestehenden Parteien eingefügt, sondern stimmen je nach ihren Particulcinntercssen mit der
einen oder andern.
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[0103] Untersuchungen beweisen und im Wesentlichen wird der Unterschied nur der sein, daß vor 1832 der Kandidat dem Besitzer des Wahlfleckens eine runde Summe zahlte, während er jetzt den verschiedenen Personen, welche wahlbe¬ rechtigt sind, kleinere Summen oder auch nur frei Bier gibt. Diese Mängel wurden gleich bei Erlaß der Neformacte hervorgehoben und vorausgesagt, andere haben sich erst später mehr und mehr herausgestellt. Es liegt einmal im System der parlamentarischen Regierung, wie sie sich in England gebildet hat, daß nicht blos die Minister, sondern auch die Unterstaalssecretäre, Kronanwälte u. s. w. Mitglieder eines der beiden Häuser sein müssen; die Minister selbst sind allerdings meist bekannt genug, um einer Wahl sicher zu sein, es macht aber nach Abschaffung der Regierungs¬ wahlflecken oft erhebliche Schwierigkeiten, um für jüngere Leute, welche vor¬ trefflich als Verwaltungsbeamte, aber politisch unbekannt sind, einen Sitz im Unterhause zu finden. Die Minister müssen daher nehmen nicht wen sie für den tauglichsten halten, sondern wen sie bekommen können. Auch kann nicht geleugnet werden, daß mit der Reformbill eine Zersetzung der Parteien begonnen hat*), welche oft das parlamentarische Regiment überhaupt in Frage zu stellen drohte; wir haben es seitdem mehrmals erlebt, daß ein Ministerium nicht leben und nicht sterben konnte; hat sich doch auch gegenwärtig das Disraeli- sche Cabinet. obwohl in der Minorität, behauptet, weil die Opposition zu uneinig war, um ein anderes aus ihrer Mitte zu bilden. Dies ist eine be¬ denkliche Erscheinung in einem Lande, wo keine unabhängige königliche Ge¬ walt neben, der Legislative steht und wo die Regierung nur dadurch stark ist, daß die Minister im Parlament hinreichende Autorität haben, um den Gang der Geschäfte zu leiten. Je schwächer ein Ministerium ist, desto weniger wird es die Verantwortlichkeit großer Maßregeln auf sich nehmen wollen, sondern geneigt sein, sie auf das Parlament abzuwälzen, wodurch die Verant¬ wortlichkeit illusorisch wird, weil eine große Versammlung, welche nicht ge¬ führt wird, unsicher in ihrem Verfahren und unstät in ihren Beschlüssen ist. Und mit dieser Zerfahrenheit der Parteien hat die Tüchtigkeit ihrer Führer abgenommen, die Zeit von 1832—60 hat wesentlich von den Staatsmännern gelebt, welche schon vorher „auf die Bühne getreten waren, wie sehr aber mangelt es an Nachwuchs! Die Mittelclassen haben wenig Männer von Bedeutung und keinen einzigen Staatsmann in großem Stil hervorgebracht. Wir sind weit entfernt, der Reformbill allein die Schuld dieser Uebel¬ stände zuzuschreiben und verkennen keineswegs, daß sie, wie einmal die sieu- ") Von Bedeutung ist in dieser Beziehung übrigens auch die Katholikcnemcmcivation ge¬ blieben, denn die Jrlänoer, welchen durch sie das Parlament geöffnet ward, haben sich nicht den bestehenden Parteien eingefügt, sondern stimmen je nach ihren Particulcinntercssen mit der einen oder andern. Grenzboten IV. 18K8. 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/103>, abgerufen am 05.02.2025.