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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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unter 4000 nur einen Vertreter behalten. Von den so verfügbar gewordenen
Sitzen sollten 8 London, 34 größeren Städten und 55 den Grafschaften
zufallen,

2) die bunten Abstufungen des Wahlrechtes in den Städten sollten ab¬
geschafft und dafür eine Qualifikation von 10 Pfd. Sterl. jährlichem Mieth¬
zins eingeführt werden.

Die Maßregel ging weiter als Freunde gehofft und Feinde gefürchtet
hatten; groß war der Beifall, den sie in der Masse der Bevölkerung fand, um
so lebhafter aber die Opposition nicht nur bei denen, die in ihrem bisherigen
Besitz bedroht waren (im Unterhaus allein 107 Mitglieder), sondern auch bei
vielen Gemäßigten, welche eine Untergrabung des Gleichgewichts der Ver¬
fassung von der Bill fürchteten. Guizot erzählt, daß ihm damals ein ein¬
sichtiger und hochgeachteter Whig geschrieben, die Strömung gehe seit langer
Zeit zur Demokratie, aber er sehe nicht ein, warum man diesen Wechsel noch
beschleunigen solle, statt ihn sich langsam vollziehen zu lassen. Eine weniger
einschneidende Maßregel würde den ganzen urtheilsfähigem Theil der Nation
befriedigt haben. Die Gegner der Maßregel führten im Wesentlichen Fol¬
gendes an.

1) Das bisherige System habe auf beiden Seiten jedem politischen Talent
einen Platz gesichert. Jeder aufstrebende Kopf, welcher der Regierung oder
der Opposition von Nutzen sein konnte, sei sicher gewesen einen Sitz zu finden;
fast alle Staatsmänner, welche sich einen Namen in der parlamentarischen
Geschichte erworben, seien zuerst für kleine Flecken eingetreten; die Regierung
habe auf diese Weise jede Stelle mit dem Bestgeeigneten besetzen können.

2) Das System habe auch eben durch die Zugänglichkett der kleinen
Flecken jedem großen Interesse der Nation eine Vertretung gesichert, während
bet offener und freier Wahl manche bedeutende Classen der Gesellschaft doch
nicht die Majorität in den einzelnen Wählerschaften erreichen würden.

3) Das System habe der jedesmaligen Regierung eine feste Majorität
gesichert und doch, wie die Geschichte zeige, keineswegs stationäre Zustände ge¬
schaffen. Wenn ein Ministerium durch Mißgriffe gefallen, so erhielten seine
Nachfolger, welche vielleicht mit wenigen Stimmen gesiegt, eine feste Majo¬
rität durch die Flecken, welche in den Händen, der Regierung als solcher
waren. Dadurch aber sei die verderblichste Eventualität des-parlamentari¬
schen Wesens beseitigt, nämlich die, daß das Cabinet nicht im Stande sei, eine
Maßregel durchzuführen und doch die Opposition nicht fähig war an seine
Stelle zu treten. >-- Gewiß waren diese Einwürfe nicht ohne Gewicht,
wollte doch auch der eifrigste Reformer im Grey'schen Ministerium, Lord
Brougham, die Regierungswahlflecken (pocket borougliL) erhalten. Es wird auch
nicht geleugnet werden können, daß, ehe diese Bill eingebracht war, die offene-


unter 4000 nur einen Vertreter behalten. Von den so verfügbar gewordenen
Sitzen sollten 8 London, 34 größeren Städten und 55 den Grafschaften
zufallen,

2) die bunten Abstufungen des Wahlrechtes in den Städten sollten ab¬
geschafft und dafür eine Qualifikation von 10 Pfd. Sterl. jährlichem Mieth¬
zins eingeführt werden.

Die Maßregel ging weiter als Freunde gehofft und Feinde gefürchtet
hatten; groß war der Beifall, den sie in der Masse der Bevölkerung fand, um
so lebhafter aber die Opposition nicht nur bei denen, die in ihrem bisherigen
Besitz bedroht waren (im Unterhaus allein 107 Mitglieder), sondern auch bei
vielen Gemäßigten, welche eine Untergrabung des Gleichgewichts der Ver¬
fassung von der Bill fürchteten. Guizot erzählt, daß ihm damals ein ein¬
sichtiger und hochgeachteter Whig geschrieben, die Strömung gehe seit langer
Zeit zur Demokratie, aber er sehe nicht ein, warum man diesen Wechsel noch
beschleunigen solle, statt ihn sich langsam vollziehen zu lassen. Eine weniger
einschneidende Maßregel würde den ganzen urtheilsfähigem Theil der Nation
befriedigt haben. Die Gegner der Maßregel führten im Wesentlichen Fol¬
gendes an.

1) Das bisherige System habe auf beiden Seiten jedem politischen Talent
einen Platz gesichert. Jeder aufstrebende Kopf, welcher der Regierung oder
der Opposition von Nutzen sein konnte, sei sicher gewesen einen Sitz zu finden;
fast alle Staatsmänner, welche sich einen Namen in der parlamentarischen
Geschichte erworben, seien zuerst für kleine Flecken eingetreten; die Regierung
habe auf diese Weise jede Stelle mit dem Bestgeeigneten besetzen können.

2) Das System habe auch eben durch die Zugänglichkett der kleinen
Flecken jedem großen Interesse der Nation eine Vertretung gesichert, während
bet offener und freier Wahl manche bedeutende Classen der Gesellschaft doch
nicht die Majorität in den einzelnen Wählerschaften erreichen würden.

3) Das System habe der jedesmaligen Regierung eine feste Majorität
gesichert und doch, wie die Geschichte zeige, keineswegs stationäre Zustände ge¬
schaffen. Wenn ein Ministerium durch Mißgriffe gefallen, so erhielten seine
Nachfolger, welche vielleicht mit wenigen Stimmen gesiegt, eine feste Majo¬
rität durch die Flecken, welche in den Händen, der Regierung als solcher
waren. Dadurch aber sei die verderblichste Eventualität des-parlamentari¬
schen Wesens beseitigt, nämlich die, daß das Cabinet nicht im Stande sei, eine
Maßregel durchzuführen und doch die Opposition nicht fähig war an seine
Stelle zu treten. >— Gewiß waren diese Einwürfe nicht ohne Gewicht,
wollte doch auch der eifrigste Reformer im Grey'schen Ministerium, Lord
Brougham, die Regierungswahlflecken (pocket borougliL) erhalten. Es wird auch
nicht geleugnet werden können, daß, ehe diese Bill eingebracht war, die offene-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/100>, abgerufen am 05.02.2025.