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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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kaners selbst mit seiner reichen Fülle von Betrachtungsmaterial mag dies
weniger zum Bewußtsein bringen, obwohl auch hier die willkürliche Ver¬
allgemeinerung unscheinbarer Einzelheiten bisweilen auffällig genug hervor¬
tritt. Dühring aber hat das Verdienst, gezeigt zu haben, daß das Careysche
System hinausläuft auf die abstracteste und unfruchtbarste Spekulation, auf
einen Idealismus mit grenzenloser Selbstüberschätzung, der aber die Er¬
rungenschaften des Empirismus recht geschickt für seine Zwecke zu benutzen
versteht.

Ob Carey trotz alledem in Deutschland Schule machen wird, wagen wir
nicht zu entscheiden. Ein Moment allerdings könnte mit Erfolg darauf
hinwirken: das System ist überaus brauchbar für die Zwecke einer gewissen
socialen Agitation. Schon der Meister selbst weiß hie und da den Ton des
Demagogen mit Geschick anzuschlagen; die Vorrede der vorliegenden Ueber¬
setzung fecundirt darin nach Kräften. Unmöglich also wäre es nicht, daß
Carey auch bei uns Berühmtheit, wahrscheinlich aber eine traurige Berühmt¬
heit erlangte.




Das heutige Palästina.

Der Name Jerusalem, der so viele Jahrhunderte hindurch in den Her¬
zen der Gläubigen gelebt und mehr als einmal ganze Völker mächtig erregt
hat, übt auch heute eine bedeutende. Wirkung aus. Die früheren Bewohner
des Landes, einst eng abgesondert vom Völkerverkehre, nun aber in alle
Gegenden der Erde zerstreut und den Verkehr vielfach beherrschend, denken noch
immer mit Wehmuth an die verschwundene Herrlichkeit ihres Tempels und ihrer
Könige und sehnen sich nach der endlichen Erfüllung der Weissagungen vom
neuen Nationalheiligthum und glorreicher Rückkehr in das Erbe der Väter.
In den Gemeinden und Schulen der alten wie der erneuerten Kirchen hat
der Name einen erhebenden Klang; aber auch der Muhammedaner betrachtet
"die Heilige", auf deren Berge ein Freund Gottes seinen Sohn hat
opfern wollen, und in welcher der größte Prophet, "unser Herr Jsa" ge¬
predigt hat, mit großer Ehrfurcht und stellt sie Mekka', Medina und Hebron
gleich.

Die Kreuzfahrer haben es nicht vermocht. bleibenden Fuß im Lande zu
fassen, weil die Begeisterung der meisten Führer zum heiligen Kriege eine
zu sehr mit selbstsüchtigen Motiven vermischte gewesen, sie haben vielmehr an
die Entwickelung und Befestigung der eigenen Herrschaft, als an das Wohl
des eroberten Landes gedacht, und die herrlichsten Thaten sind nur zu oft
mit den häßlichen Flecken verübten Unrechts besudelt worden. In den aus


kaners selbst mit seiner reichen Fülle von Betrachtungsmaterial mag dies
weniger zum Bewußtsein bringen, obwohl auch hier die willkürliche Ver¬
allgemeinerung unscheinbarer Einzelheiten bisweilen auffällig genug hervor¬
tritt. Dühring aber hat das Verdienst, gezeigt zu haben, daß das Careysche
System hinausläuft auf die abstracteste und unfruchtbarste Spekulation, auf
einen Idealismus mit grenzenloser Selbstüberschätzung, der aber die Er¬
rungenschaften des Empirismus recht geschickt für seine Zwecke zu benutzen
versteht.

Ob Carey trotz alledem in Deutschland Schule machen wird, wagen wir
nicht zu entscheiden. Ein Moment allerdings könnte mit Erfolg darauf
hinwirken: das System ist überaus brauchbar für die Zwecke einer gewissen
socialen Agitation. Schon der Meister selbst weiß hie und da den Ton des
Demagogen mit Geschick anzuschlagen; die Vorrede der vorliegenden Ueber¬
setzung fecundirt darin nach Kräften. Unmöglich also wäre es nicht, daß
Carey auch bei uns Berühmtheit, wahrscheinlich aber eine traurige Berühmt¬
heit erlangte.




Das heutige Palästina.

Der Name Jerusalem, der so viele Jahrhunderte hindurch in den Her¬
zen der Gläubigen gelebt und mehr als einmal ganze Völker mächtig erregt
hat, übt auch heute eine bedeutende. Wirkung aus. Die früheren Bewohner
des Landes, einst eng abgesondert vom Völkerverkehre, nun aber in alle
Gegenden der Erde zerstreut und den Verkehr vielfach beherrschend, denken noch
immer mit Wehmuth an die verschwundene Herrlichkeit ihres Tempels und ihrer
Könige und sehnen sich nach der endlichen Erfüllung der Weissagungen vom
neuen Nationalheiligthum und glorreicher Rückkehr in das Erbe der Väter.
In den Gemeinden und Schulen der alten wie der erneuerten Kirchen hat
der Name einen erhebenden Klang; aber auch der Muhammedaner betrachtet
„die Heilige", auf deren Berge ein Freund Gottes seinen Sohn hat
opfern wollen, und in welcher der größte Prophet, „unser Herr Jsa" ge¬
predigt hat, mit großer Ehrfurcht und stellt sie Mekka', Medina und Hebron
gleich.

Die Kreuzfahrer haben es nicht vermocht. bleibenden Fuß im Lande zu
fassen, weil die Begeisterung der meisten Führer zum heiligen Kriege eine
zu sehr mit selbstsüchtigen Motiven vermischte gewesen, sie haben vielmehr an
die Entwickelung und Befestigung der eigenen Herrschaft, als an das Wohl
des eroberten Landes gedacht, und die herrlichsten Thaten sind nur zu oft
mit den häßlichen Flecken verübten Unrechts besudelt worden. In den aus


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[0082] kaners selbst mit seiner reichen Fülle von Betrachtungsmaterial mag dies weniger zum Bewußtsein bringen, obwohl auch hier die willkürliche Ver¬ allgemeinerung unscheinbarer Einzelheiten bisweilen auffällig genug hervor¬ tritt. Dühring aber hat das Verdienst, gezeigt zu haben, daß das Careysche System hinausläuft auf die abstracteste und unfruchtbarste Spekulation, auf einen Idealismus mit grenzenloser Selbstüberschätzung, der aber die Er¬ rungenschaften des Empirismus recht geschickt für seine Zwecke zu benutzen versteht. Ob Carey trotz alledem in Deutschland Schule machen wird, wagen wir nicht zu entscheiden. Ein Moment allerdings könnte mit Erfolg darauf hinwirken: das System ist überaus brauchbar für die Zwecke einer gewissen socialen Agitation. Schon der Meister selbst weiß hie und da den Ton des Demagogen mit Geschick anzuschlagen; die Vorrede der vorliegenden Ueber¬ setzung fecundirt darin nach Kräften. Unmöglich also wäre es nicht, daß Carey auch bei uns Berühmtheit, wahrscheinlich aber eine traurige Berühmt¬ heit erlangte. Das heutige Palästina. Der Name Jerusalem, der so viele Jahrhunderte hindurch in den Her¬ zen der Gläubigen gelebt und mehr als einmal ganze Völker mächtig erregt hat, übt auch heute eine bedeutende. Wirkung aus. Die früheren Bewohner des Landes, einst eng abgesondert vom Völkerverkehre, nun aber in alle Gegenden der Erde zerstreut und den Verkehr vielfach beherrschend, denken noch immer mit Wehmuth an die verschwundene Herrlichkeit ihres Tempels und ihrer Könige und sehnen sich nach der endlichen Erfüllung der Weissagungen vom neuen Nationalheiligthum und glorreicher Rückkehr in das Erbe der Väter. In den Gemeinden und Schulen der alten wie der erneuerten Kirchen hat der Name einen erhebenden Klang; aber auch der Muhammedaner betrachtet „die Heilige", auf deren Berge ein Freund Gottes seinen Sohn hat opfern wollen, und in welcher der größte Prophet, „unser Herr Jsa" ge¬ predigt hat, mit großer Ehrfurcht und stellt sie Mekka', Medina und Hebron gleich. Die Kreuzfahrer haben es nicht vermocht. bleibenden Fuß im Lande zu fassen, weil die Begeisterung der meisten Führer zum heiligen Kriege eine zu sehr mit selbstsüchtigen Motiven vermischte gewesen, sie haben vielmehr an die Entwickelung und Befestigung der eigenen Herrschaft, als an das Wohl des eroberten Landes gedacht, und die herrlichsten Thaten sind nur zu oft mit den häßlichen Flecken verübten Unrechts besudelt worden. In den aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/82>, abgerufen am 23.07.2024.