Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

Bild:
<< vorherige Seite

lig liberalen Männer, daß in Rüdesheim lieber ein hochconservativer Land¬
rath gewählt wird, als ein liberaler und unabhängiger Mann, von welchem
sie vermuthen, daß er derselben Fraction angehören würde, wie ich?

Es ist schwer diese Frage zu beantworten. Persönliche Gehässigkeit
kann es nicht sein. Ich stehe persönlich mit den genannten Herren aus dem
besten Fuße, und selbst wenn dies nicht der Fall wäre, so sind sie Gentlemen
und würden ihren Gefühlen in anderer Form Ausdruck geben. Daher kann
ich jenes Factum nur als Symptom eines dermalen noch allgemein, aber
hoffentlich nur vorübergehend herrschenden Zustandes betrachten; und ich kann
diesen Zustand nicht anders bezeichnen, als: In einem Theile der Presse gras-
sirt wieder als Revenant jener polemisch-dogmatische Zopf, durch welchen sich
die literarischen Klopffechtereien der Theologen, Philologen und sonstigen
scholastischen Alexandriner in Deutschland während der vergangenen Jahr¬
hunderte auszeichneten. Wir stecken hier noch tief in dem Niederschlag, wel¬
chen das sinkende Mittelalter zurückgelassen. Wir müssen bemüht sein, uns
auch hierin, wie dies bei anderen civilisirten Nationen längst geschehen, auf
einen menschlich freien Standpunkt empor zu arbeiten.

Zu der Zeit, als man sich mit Leidenschaft jener Beschäftigung hingab,
als das Publikum mit angehaltenem Athem lauschte, wenn sich zwei Gelehrte
in Betreff des Pünktchen über dem I stritten, einander mit Abhandlungen,
Brochüren, Octavbänden, Quartanten und Folianten bombardirten und
einen Staub aufwirbelten, als handle sich's um Sein oder Nichtsein des
heiligen römischen Reichs, -- damals hatte die Nation eine Entschuldigung.
Sie war politisch eine Null und hatte nichts zu thun; da sie aber auch da¬
mals doch den Drang zur Thätigkeit in sich fühlte und immer einen Hang
zu Idealen trug, so gerieth sie auf jene Silbenstechereien und Haarspaltereien;
und die Gewalthaber sahen das nicht ungerne. Denn während sich die Unter¬
thanen solcher Gestalt durch Repliciren und Dupliciren divertirten, thaten
sie wenigstens nichts Böses und hinderten Niemanden zu regieren wie er
Lust hatte.

Aber heutzutage ist das anders. Seit unserer politischen Wiedergeburt
sind wir wieder auf dem Wege, eine Nation zu werden; und auf diesem
Wege müssen wir rasch und fest voranschreiten, ohne das Ziel je aus dem
Auge zu verlieren. Gerade die liberale Partei, die seit der Veröffentlichung
von Paul Pfizer's "Briefwechsel zweier Deutschen" und von dem Basser-
mann'schen Parlamentsantrag in der badischen zweiten Kammer bis zu dem
Abgeordnetentag von Pfingsten 1866 zu Frankfurt am Main, stets die Eini¬
gung Deutschlands unter Preußens Führung gepredigt hat, darf sich der
Mitwirkung am nationalen Neubau viel weniger entziehen, als irgend eine
andere; jedenfalls aber weniger, als die conservative, welche erst seit den


lig liberalen Männer, daß in Rüdesheim lieber ein hochconservativer Land¬
rath gewählt wird, als ein liberaler und unabhängiger Mann, von welchem
sie vermuthen, daß er derselben Fraction angehören würde, wie ich?

Es ist schwer diese Frage zu beantworten. Persönliche Gehässigkeit
kann es nicht sein. Ich stehe persönlich mit den genannten Herren aus dem
besten Fuße, und selbst wenn dies nicht der Fall wäre, so sind sie Gentlemen
und würden ihren Gefühlen in anderer Form Ausdruck geben. Daher kann
ich jenes Factum nur als Symptom eines dermalen noch allgemein, aber
hoffentlich nur vorübergehend herrschenden Zustandes betrachten; und ich kann
diesen Zustand nicht anders bezeichnen, als: In einem Theile der Presse gras-
sirt wieder als Revenant jener polemisch-dogmatische Zopf, durch welchen sich
die literarischen Klopffechtereien der Theologen, Philologen und sonstigen
scholastischen Alexandriner in Deutschland während der vergangenen Jahr¬
hunderte auszeichneten. Wir stecken hier noch tief in dem Niederschlag, wel¬
chen das sinkende Mittelalter zurückgelassen. Wir müssen bemüht sein, uns
auch hierin, wie dies bei anderen civilisirten Nationen längst geschehen, auf
einen menschlich freien Standpunkt empor zu arbeiten.

Zu der Zeit, als man sich mit Leidenschaft jener Beschäftigung hingab,
als das Publikum mit angehaltenem Athem lauschte, wenn sich zwei Gelehrte
in Betreff des Pünktchen über dem I stritten, einander mit Abhandlungen,
Brochüren, Octavbänden, Quartanten und Folianten bombardirten und
einen Staub aufwirbelten, als handle sich's um Sein oder Nichtsein des
heiligen römischen Reichs, — damals hatte die Nation eine Entschuldigung.
Sie war politisch eine Null und hatte nichts zu thun; da sie aber auch da¬
mals doch den Drang zur Thätigkeit in sich fühlte und immer einen Hang
zu Idealen trug, so gerieth sie auf jene Silbenstechereien und Haarspaltereien;
und die Gewalthaber sahen das nicht ungerne. Denn während sich die Unter¬
thanen solcher Gestalt durch Repliciren und Dupliciren divertirten, thaten
sie wenigstens nichts Böses und hinderten Niemanden zu regieren wie er
Lust hatte.

Aber heutzutage ist das anders. Seit unserer politischen Wiedergeburt
sind wir wieder auf dem Wege, eine Nation zu werden; und auf diesem
Wege müssen wir rasch und fest voranschreiten, ohne das Ziel je aus dem
Auge zu verlieren. Gerade die liberale Partei, die seit der Veröffentlichung
von Paul Pfizer's „Briefwechsel zweier Deutschen" und von dem Basser-
mann'schen Parlamentsantrag in der badischen zweiten Kammer bis zu dem
Abgeordnetentag von Pfingsten 1866 zu Frankfurt am Main, stets die Eini¬
gung Deutschlands unter Preußens Führung gepredigt hat, darf sich der
Mitwirkung am nationalen Neubau viel weniger entziehen, als irgend eine
andere; jedenfalls aber weniger, als die conservative, welche erst seit den


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0065" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/286777"/>
          <p xml:id="ID_140" prev="#ID_139"> lig liberalen Männer, daß in Rüdesheim lieber ein hochconservativer Land¬<lb/>
rath gewählt wird, als ein liberaler und unabhängiger Mann, von welchem<lb/>
sie vermuthen, daß er derselben Fraction angehören würde, wie ich?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_141"> Es ist schwer diese Frage zu beantworten. Persönliche Gehässigkeit<lb/>
kann es nicht sein. Ich stehe persönlich mit den genannten Herren aus dem<lb/>
besten Fuße, und selbst wenn dies nicht der Fall wäre, so sind sie Gentlemen<lb/>
und würden ihren Gefühlen in anderer Form Ausdruck geben. Daher kann<lb/>
ich jenes Factum nur als Symptom eines dermalen noch allgemein, aber<lb/>
hoffentlich nur vorübergehend herrschenden Zustandes betrachten; und ich kann<lb/>
diesen Zustand nicht anders bezeichnen, als: In einem Theile der Presse gras-<lb/>
sirt wieder als Revenant jener polemisch-dogmatische Zopf, durch welchen sich<lb/>
die literarischen Klopffechtereien der Theologen, Philologen und sonstigen<lb/>
scholastischen Alexandriner in Deutschland während der vergangenen Jahr¬<lb/>
hunderte auszeichneten. Wir stecken hier noch tief in dem Niederschlag, wel¬<lb/>
chen das sinkende Mittelalter zurückgelassen. Wir müssen bemüht sein, uns<lb/>
auch hierin, wie dies bei anderen civilisirten Nationen längst geschehen, auf<lb/>
einen menschlich freien Standpunkt empor zu arbeiten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_142"> Zu der Zeit, als man sich mit Leidenschaft jener Beschäftigung hingab,<lb/>
als das Publikum mit angehaltenem Athem lauschte, wenn sich zwei Gelehrte<lb/>
in Betreff des Pünktchen über dem I stritten, einander mit Abhandlungen,<lb/>
Brochüren, Octavbänden, Quartanten und Folianten bombardirten und<lb/>
einen Staub aufwirbelten, als handle sich's um Sein oder Nichtsein des<lb/>
heiligen römischen Reichs, &#x2014; damals hatte die Nation eine Entschuldigung.<lb/>
Sie war politisch eine Null und hatte nichts zu thun; da sie aber auch da¬<lb/>
mals doch den Drang zur Thätigkeit in sich fühlte und immer einen Hang<lb/>
zu Idealen trug, so gerieth sie auf jene Silbenstechereien und Haarspaltereien;<lb/>
und die Gewalthaber sahen das nicht ungerne. Denn während sich die Unter¬<lb/>
thanen solcher Gestalt durch Repliciren und Dupliciren divertirten, thaten<lb/>
sie wenigstens nichts Böses und hinderten Niemanden zu regieren wie er<lb/>
Lust hatte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_143" next="#ID_144"> Aber heutzutage ist das anders. Seit unserer politischen Wiedergeburt<lb/>
sind wir wieder auf dem Wege, eine Nation zu werden; und auf diesem<lb/>
Wege müssen wir rasch und fest voranschreiten, ohne das Ziel je aus dem<lb/>
Auge zu verlieren. Gerade die liberale Partei, die seit der Veröffentlichung<lb/>
von Paul Pfizer's &#x201E;Briefwechsel zweier Deutschen" und von dem Basser-<lb/>
mann'schen Parlamentsantrag in der badischen zweiten Kammer bis zu dem<lb/>
Abgeordnetentag von Pfingsten 1866 zu Frankfurt am Main, stets die Eini¬<lb/>
gung Deutschlands unter Preußens Führung gepredigt hat, darf sich der<lb/>
Mitwirkung am nationalen Neubau viel weniger entziehen, als irgend eine<lb/>
andere; jedenfalls aber weniger, als die conservative, welche erst seit den</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0065] lig liberalen Männer, daß in Rüdesheim lieber ein hochconservativer Land¬ rath gewählt wird, als ein liberaler und unabhängiger Mann, von welchem sie vermuthen, daß er derselben Fraction angehören würde, wie ich? Es ist schwer diese Frage zu beantworten. Persönliche Gehässigkeit kann es nicht sein. Ich stehe persönlich mit den genannten Herren aus dem besten Fuße, und selbst wenn dies nicht der Fall wäre, so sind sie Gentlemen und würden ihren Gefühlen in anderer Form Ausdruck geben. Daher kann ich jenes Factum nur als Symptom eines dermalen noch allgemein, aber hoffentlich nur vorübergehend herrschenden Zustandes betrachten; und ich kann diesen Zustand nicht anders bezeichnen, als: In einem Theile der Presse gras- sirt wieder als Revenant jener polemisch-dogmatische Zopf, durch welchen sich die literarischen Klopffechtereien der Theologen, Philologen und sonstigen scholastischen Alexandriner in Deutschland während der vergangenen Jahr¬ hunderte auszeichneten. Wir stecken hier noch tief in dem Niederschlag, wel¬ chen das sinkende Mittelalter zurückgelassen. Wir müssen bemüht sein, uns auch hierin, wie dies bei anderen civilisirten Nationen längst geschehen, auf einen menschlich freien Standpunkt empor zu arbeiten. Zu der Zeit, als man sich mit Leidenschaft jener Beschäftigung hingab, als das Publikum mit angehaltenem Athem lauschte, wenn sich zwei Gelehrte in Betreff des Pünktchen über dem I stritten, einander mit Abhandlungen, Brochüren, Octavbänden, Quartanten und Folianten bombardirten und einen Staub aufwirbelten, als handle sich's um Sein oder Nichtsein des heiligen römischen Reichs, — damals hatte die Nation eine Entschuldigung. Sie war politisch eine Null und hatte nichts zu thun; da sie aber auch da¬ mals doch den Drang zur Thätigkeit in sich fühlte und immer einen Hang zu Idealen trug, so gerieth sie auf jene Silbenstechereien und Haarspaltereien; und die Gewalthaber sahen das nicht ungerne. Denn während sich die Unter¬ thanen solcher Gestalt durch Repliciren und Dupliciren divertirten, thaten sie wenigstens nichts Böses und hinderten Niemanden zu regieren wie er Lust hatte. Aber heutzutage ist das anders. Seit unserer politischen Wiedergeburt sind wir wieder auf dem Wege, eine Nation zu werden; und auf diesem Wege müssen wir rasch und fest voranschreiten, ohne das Ziel je aus dem Auge zu verlieren. Gerade die liberale Partei, die seit der Veröffentlichung von Paul Pfizer's „Briefwechsel zweier Deutschen" und von dem Basser- mann'schen Parlamentsantrag in der badischen zweiten Kammer bis zu dem Abgeordnetentag von Pfingsten 1866 zu Frankfurt am Main, stets die Eini¬ gung Deutschlands unter Preußens Führung gepredigt hat, darf sich der Mitwirkung am nationalen Neubau viel weniger entziehen, als irgend eine andere; jedenfalls aber weniger, als die conservative, welche erst seit den

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/65
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/65>, abgerufen am 24.08.2024.