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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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nisch-revolutionären Aera ist eine so kolossale Umwälzung der ganzen Rechts¬
ordnung in einem deutschen Lande, wie sie sich hier vollzogen hat, nicht er¬
lebt worden. Wenn man vor den 2000 Seiten der preußischen-Gesetzsamm¬
lung d. I. 1867 steht, und einen guten Theil der neu eingeführten Gesetze
noch nicht einmal im Texte abgedruckt, nur ihrem altpreußischen Datum nach
titulirt vorfindet, begreift man die ungeheuerlichen Zumuthungen kaum, die
an das Fassungsvermögen der Beamten und der Bevölkerung gestellt werden
konnten. -- In Strafrecht und Strafproeeß fiel allerdings den sechs Staats¬
anwälten der Provinz, ausschließlich altpreußischen Beamten, denen zugleich
alle administrativen Functionen der Criminaljustiz übertragen wurden, die
Hauptaufgabe der Neubildung zu. Da Graf zur Lippe in der Auswahl der
Persönlichkeiten nicht unglücklich war, ist die Aufgabe wohl mit einigem
Geschick gelöst worden, und im Allgemeinen hat diese classe äanZersuLö
preußischer Bureaukratie sich hier mit Takt und gutem Willen in ein er¬
freuliches Einvernehmen mit der Bevölkerung zu setzen gewußt. Nur in Kiel
und Flensburg ist ihnen durch die particularistische und dänische Presse die
Position etwas verdorben worden. -- Auf dem Gebiet des bürgerlichen
Rechts wurde, von der nachträglichen Einführung des Handels-Gesetz¬
buchs abgesehen, Nichts geändert, Nichts notificirt, noch unificirt. Das
eigenthümlichste Product deutscher Staatsentwickelung, das aus zwei¬
tausendjähriger Wissenschaft, Gewohnheit und Gerichtsgebrauch, aus Roma¬
nismus, Byzantinismus, Papismus und Germanismus ins Kraut geschossene
sogenannte "Gemeine Recht" ist unangetastet geblieben. Dagegen ist der
bürgerliche Proceß durch eine Verordnung reformirt, die, was man auch in
Hessen mit Fug gegen ihren dortigen Werth eingewendet hat, für Schles¬
wig-Holstein eine nothwendige und heilsame Verbesserung des bisherigen Ver¬
fahrens enthält. -- Dagegen stellte die innere Organisation der Gerichts¬
behörden und die Begründung des eigentlichen geschäftlichen Mechanismus
ungemein harte Aufgaben an das hiesige Beamtenthum. die von dem letz¬
teren aus eigener Kraft gelöst werden sollten. Der Präsident und die zwei
Directoren, die aus Altpreußen hereinbefördert wurden, verdanken ihre Be¬
förderung lediglich persönlichen Sentiments des Grafen zur Lippe, und brach¬
ten dem Organisationswerke herzlich wenig frische Kraft zu. Es war aber
ein nicht hoch genug anzuerkennender gesetzgeberischer Gedanke des vormali¬
gen Justizministers, daß er die Schleswig-holsteinsche Gerichtsverfassung nicht
auf das verdorbene altpreußische Collegialsystem der Kreisgerichte, sondern
nach dem Vorbilde Hannovers auf das Princip selbständiger Einzelrichter,
eine große Zahl localer Amtsgerichte basirte. Neben den fünf Kreisgerichten
in Altona, Kiel, Itzehoe, Schleswig und Flensburg, die in ihrer Competenz
und Stellung den hannöverschen Obergerichten ähnlicher sind als den gleich-


nisch-revolutionären Aera ist eine so kolossale Umwälzung der ganzen Rechts¬
ordnung in einem deutschen Lande, wie sie sich hier vollzogen hat, nicht er¬
lebt worden. Wenn man vor den 2000 Seiten der preußischen-Gesetzsamm¬
lung d. I. 1867 steht, und einen guten Theil der neu eingeführten Gesetze
noch nicht einmal im Texte abgedruckt, nur ihrem altpreußischen Datum nach
titulirt vorfindet, begreift man die ungeheuerlichen Zumuthungen kaum, die
an das Fassungsvermögen der Beamten und der Bevölkerung gestellt werden
konnten. — In Strafrecht und Strafproeeß fiel allerdings den sechs Staats¬
anwälten der Provinz, ausschließlich altpreußischen Beamten, denen zugleich
alle administrativen Functionen der Criminaljustiz übertragen wurden, die
Hauptaufgabe der Neubildung zu. Da Graf zur Lippe in der Auswahl der
Persönlichkeiten nicht unglücklich war, ist die Aufgabe wohl mit einigem
Geschick gelöst worden, und im Allgemeinen hat diese classe äanZersuLö
preußischer Bureaukratie sich hier mit Takt und gutem Willen in ein er¬
freuliches Einvernehmen mit der Bevölkerung zu setzen gewußt. Nur in Kiel
und Flensburg ist ihnen durch die particularistische und dänische Presse die
Position etwas verdorben worden. — Auf dem Gebiet des bürgerlichen
Rechts wurde, von der nachträglichen Einführung des Handels-Gesetz¬
buchs abgesehen, Nichts geändert, Nichts notificirt, noch unificirt. Das
eigenthümlichste Product deutscher Staatsentwickelung, das aus zwei¬
tausendjähriger Wissenschaft, Gewohnheit und Gerichtsgebrauch, aus Roma¬
nismus, Byzantinismus, Papismus und Germanismus ins Kraut geschossene
sogenannte „Gemeine Recht" ist unangetastet geblieben. Dagegen ist der
bürgerliche Proceß durch eine Verordnung reformirt, die, was man auch in
Hessen mit Fug gegen ihren dortigen Werth eingewendet hat, für Schles¬
wig-Holstein eine nothwendige und heilsame Verbesserung des bisherigen Ver¬
fahrens enthält. — Dagegen stellte die innere Organisation der Gerichts¬
behörden und die Begründung des eigentlichen geschäftlichen Mechanismus
ungemein harte Aufgaben an das hiesige Beamtenthum. die von dem letz¬
teren aus eigener Kraft gelöst werden sollten. Der Präsident und die zwei
Directoren, die aus Altpreußen hereinbefördert wurden, verdanken ihre Be¬
förderung lediglich persönlichen Sentiments des Grafen zur Lippe, und brach¬
ten dem Organisationswerke herzlich wenig frische Kraft zu. Es war aber
ein nicht hoch genug anzuerkennender gesetzgeberischer Gedanke des vormali¬
gen Justizministers, daß er die Schleswig-holsteinsche Gerichtsverfassung nicht
auf das verdorbene altpreußische Collegialsystem der Kreisgerichte, sondern
nach dem Vorbilde Hannovers auf das Princip selbständiger Einzelrichter,
eine große Zahl localer Amtsgerichte basirte. Neben den fünf Kreisgerichten
in Altona, Kiel, Itzehoe, Schleswig und Flensburg, die in ihrer Competenz
und Stellung den hannöverschen Obergerichten ähnlicher sind als den gleich-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/534>, abgerufen am 04.07.2024.