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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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Weise Verlegenheiten bereiten könnte. Dies nannten die Professoren Böh-
Mert und Emminghaus mit Recht den freien und selbständigen Standpunkt
des Congresses aufgeben. Hätte der Erstere nicht in dem ihn charakterisirenden
Feuereifer ebenfalls ein wenig übers Ziel hinausgeschossen. so wäre der um¬
gekehrte Exceß der andern Richtung muthmaßlich durch einen Beschluß für
gänzliche Aufhebung des Neiszolls bestraft worden. So votirte man wenig¬
stens mit größter Mehrheit die Ermäßigung auf die Hälfte, zu welcher auch
Dr. Wolff noch rechtzeitig den Rückweg fand.

Es wäre sehr interessant und lehrreich, einmal die innere Entwickelung
der kleinen freihändlerischen Schule, welcher Michaelis und Wolff angehören,
auf der Bühne des volkswirthschaftlichen Congresses. unter deren Acteuren
ste voranstehen, näher zu verfolgen. In Gotha 1838 erschienen sie noch mit
einem starken Rest der radicalen Lehre, welche ihr berliner Organ, die
Abendpost, zehn Jahre kühn inmitten des revolutionären Tumults einsam und
unerschrocken verkündet hatte: daß der Staat allmählich abzuschaffen sei. Von
diesem rein kritischen absoluten Ausgangspunkt her sind sie durch die publi¬
zistisch-parlamentarische Beschäftigung mit realen politischen Aufgaben, welche
sich ihnen seit der Regentschaft soviel lockender und fruchtbarer eröffnete, immer
wehr zum Positiven und Praktischen übergegangen. Sie erwiesen sich dem
nationalen Pathos nicht unzugänglich, das seit 1869 als neuer Gährungs-
stoff die wiedererwachten Massen des Volks durchsäuerte; es prägte sich bei
ihnen nur etwas preußischer als sonst meistens aus. Dazu kam dann, als
ihr unmittelbarer persönlicher Einfluß auf das Thun und Lassen der Regierung
begann, die gouvernementale Rücksicht. So sind die einstigen absoluten
Kritiker und Idealisten heute die wahren Praktiker des Congresses und jetzt
lo Jahre 1868 weit eher geneigt, über dem Möglichen -- so wie dasselbe
steh im Regierungslager ausnimmt -- das Nothwendige der Idee hintcmzu-
s°hen, als umgekehrt wie 1848 und einigermaßen selbst noch 1858 Forde¬
rungen zu erheben, welche für die Gegenwart lediglich ideellen Werth besitzen
und in Anspruch nehmen. Von der Seite der Scylla sind sie gänzlich auf
^le der Charybdis hinübergerathen, während der Congreß immer beiden
gleich weit auszuweichen wünschen muß.

Das wird ihm denn hoffentlich auch ferner gelingen. Die beiden ein¬
ander ausschließenden Strömungen haben unter und um sich eine dritte, für
gewöhnlich stillere, im Grunde aber mächtigere, welche sie beide verschlingen
^ag, wenn ihr Kampf um gegenseitige Verdrängung jemals gefährliche Di¬
mensionen annehmen sollte. Nach einigem sehr erklärlichen Schwanken im
^"fang einer neuen veränderten Epoche wird der Congreß nicht nur sein
^geltes ruhiges Gleichgewicht und sicheres Selbstbewußtsein, sondern auch die
spitze der nationalen Vorwärtsbewegung wiedergewinnen, der ihre Wirth-


Weise Verlegenheiten bereiten könnte. Dies nannten die Professoren Böh-
Mert und Emminghaus mit Recht den freien und selbständigen Standpunkt
des Congresses aufgeben. Hätte der Erstere nicht in dem ihn charakterisirenden
Feuereifer ebenfalls ein wenig übers Ziel hinausgeschossen. so wäre der um¬
gekehrte Exceß der andern Richtung muthmaßlich durch einen Beschluß für
gänzliche Aufhebung des Neiszolls bestraft worden. So votirte man wenig¬
stens mit größter Mehrheit die Ermäßigung auf die Hälfte, zu welcher auch
Dr. Wolff noch rechtzeitig den Rückweg fand.

Es wäre sehr interessant und lehrreich, einmal die innere Entwickelung
der kleinen freihändlerischen Schule, welcher Michaelis und Wolff angehören,
auf der Bühne des volkswirthschaftlichen Congresses. unter deren Acteuren
ste voranstehen, näher zu verfolgen. In Gotha 1838 erschienen sie noch mit
einem starken Rest der radicalen Lehre, welche ihr berliner Organ, die
Abendpost, zehn Jahre kühn inmitten des revolutionären Tumults einsam und
unerschrocken verkündet hatte: daß der Staat allmählich abzuschaffen sei. Von
diesem rein kritischen absoluten Ausgangspunkt her sind sie durch die publi¬
zistisch-parlamentarische Beschäftigung mit realen politischen Aufgaben, welche
sich ihnen seit der Regentschaft soviel lockender und fruchtbarer eröffnete, immer
wehr zum Positiven und Praktischen übergegangen. Sie erwiesen sich dem
nationalen Pathos nicht unzugänglich, das seit 1869 als neuer Gährungs-
stoff die wiedererwachten Massen des Volks durchsäuerte; es prägte sich bei
ihnen nur etwas preußischer als sonst meistens aus. Dazu kam dann, als
ihr unmittelbarer persönlicher Einfluß auf das Thun und Lassen der Regierung
begann, die gouvernementale Rücksicht. So sind die einstigen absoluten
Kritiker und Idealisten heute die wahren Praktiker des Congresses und jetzt
lo Jahre 1868 weit eher geneigt, über dem Möglichen — so wie dasselbe
steh im Regierungslager ausnimmt — das Nothwendige der Idee hintcmzu-
s°hen, als umgekehrt wie 1848 und einigermaßen selbst noch 1858 Forde¬
rungen zu erheben, welche für die Gegenwart lediglich ideellen Werth besitzen
und in Anspruch nehmen. Von der Seite der Scylla sind sie gänzlich auf
^le der Charybdis hinübergerathen, während der Congreß immer beiden
gleich weit auszuweichen wünschen muß.

Das wird ihm denn hoffentlich auch ferner gelingen. Die beiden ein¬
ander ausschließenden Strömungen haben unter und um sich eine dritte, für
gewöhnlich stillere, im Grunde aber mächtigere, welche sie beide verschlingen
^ag, wenn ihr Kampf um gegenseitige Verdrängung jemals gefährliche Di¬
mensionen annehmen sollte. Nach einigem sehr erklärlichen Schwanken im
^"fang einer neuen veränderten Epoche wird der Congreß nicht nur sein
^geltes ruhiges Gleichgewicht und sicheres Selbstbewußtsein, sondern auch die
spitze der nationalen Vorwärtsbewegung wiedergewinnen, der ihre Wirth-


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[0477] Weise Verlegenheiten bereiten könnte. Dies nannten die Professoren Böh- Mert und Emminghaus mit Recht den freien und selbständigen Standpunkt des Congresses aufgeben. Hätte der Erstere nicht in dem ihn charakterisirenden Feuereifer ebenfalls ein wenig übers Ziel hinausgeschossen. so wäre der um¬ gekehrte Exceß der andern Richtung muthmaßlich durch einen Beschluß für gänzliche Aufhebung des Neiszolls bestraft worden. So votirte man wenig¬ stens mit größter Mehrheit die Ermäßigung auf die Hälfte, zu welcher auch Dr. Wolff noch rechtzeitig den Rückweg fand. Es wäre sehr interessant und lehrreich, einmal die innere Entwickelung der kleinen freihändlerischen Schule, welcher Michaelis und Wolff angehören, auf der Bühne des volkswirthschaftlichen Congresses. unter deren Acteuren ste voranstehen, näher zu verfolgen. In Gotha 1838 erschienen sie noch mit einem starken Rest der radicalen Lehre, welche ihr berliner Organ, die Abendpost, zehn Jahre kühn inmitten des revolutionären Tumults einsam und unerschrocken verkündet hatte: daß der Staat allmählich abzuschaffen sei. Von diesem rein kritischen absoluten Ausgangspunkt her sind sie durch die publi¬ zistisch-parlamentarische Beschäftigung mit realen politischen Aufgaben, welche sich ihnen seit der Regentschaft soviel lockender und fruchtbarer eröffnete, immer wehr zum Positiven und Praktischen übergegangen. Sie erwiesen sich dem nationalen Pathos nicht unzugänglich, das seit 1869 als neuer Gährungs- stoff die wiedererwachten Massen des Volks durchsäuerte; es prägte sich bei ihnen nur etwas preußischer als sonst meistens aus. Dazu kam dann, als ihr unmittelbarer persönlicher Einfluß auf das Thun und Lassen der Regierung begann, die gouvernementale Rücksicht. So sind die einstigen absoluten Kritiker und Idealisten heute die wahren Praktiker des Congresses und jetzt lo Jahre 1868 weit eher geneigt, über dem Möglichen — so wie dasselbe steh im Regierungslager ausnimmt — das Nothwendige der Idee hintcmzu- s°hen, als umgekehrt wie 1848 und einigermaßen selbst noch 1858 Forde¬ rungen zu erheben, welche für die Gegenwart lediglich ideellen Werth besitzen und in Anspruch nehmen. Von der Seite der Scylla sind sie gänzlich auf ^le der Charybdis hinübergerathen, während der Congreß immer beiden gleich weit auszuweichen wünschen muß. Das wird ihm denn hoffentlich auch ferner gelingen. Die beiden ein¬ ander ausschließenden Strömungen haben unter und um sich eine dritte, für gewöhnlich stillere, im Grunde aber mächtigere, welche sie beide verschlingen ^ag, wenn ihr Kampf um gegenseitige Verdrängung jemals gefährliche Di¬ mensionen annehmen sollte. Nach einigem sehr erklärlichen Schwanken im ^"fang einer neuen veränderten Epoche wird der Congreß nicht nur sein ^geltes ruhiges Gleichgewicht und sicheres Selbstbewußtsein, sondern auch die spitze der nationalen Vorwärtsbewegung wiedergewinnen, der ihre Wirth-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/477>, abgerufen am 04.07.2024.