Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Einen wären gern bis zu den alten Provinzialständen zurückgekehrt, die
Andern glaubten wenigstens die Bestätigungsrechte der Ministerialregierung
retten zu müssen. In Couriers Kopfe gestaltete sich die Frage sehr einfach,
weil er das wirkliche Volksleben vor sich sah und mit dem innigen Gefühl
der persönlichen Freiheit maß.

Im ersten Briefe an den Redacteur des Censor zeigt er die Fort¬
schritte der Zeiten. Früher konnte man einen Bauer tödten und brauchte
nur fünf Sous dafür zu bezahlen; jetzt kostet es dem Maire schon 7^/2 Sous
Stempelgebühren, einen Bauer nur einsperren zu lassen. Als einmal zu
Montaigne's Zeiten ein Bauer (vilain, manant, wir könnten auch Höriger
sagen) sich gegen einen Edelmann, der ihn umbringen wollte, vertheidigte, war
alle Welt erstaunt, und Montaigne nicht am wenigsten. "Der Kerl wurde
aufgehängt, und mit Recht, denn man muß nicht seinem Jahrhundert voran¬
eilen wollen." Unter Ludwig XIV. wußten nur erst die Nonnen, nach einer
Aeußerung La Bruyere's. daß ein Bauer auch ein Mensch sei; jetzt weiß es
alle Welt, aber bis zur praktischen Anwendung dieser Erkenntniß ist noch
ein weiter Weg. -- Im zweiten Briefe bespricht er eine wohlmeinende Schrift,
welche die Pflege und den Schutz der Negierung für den Ackerbau und die
Landwirthschaft anruft. Courier protestirt dagegen. "Laßt die Regierung
Steuern erheben und Orden vertheilen, aber, um Gottes Willen, fordert sie
nicht auf, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen; wenn sie uns nicht ver¬
gessen kann, möge sie wenigstens so selten als möglich an uns denken.
Zweifelsohne sind ihre Absichten für uns die besten der Welt, ihre Ansichten
immer überaus weise und namentlich uneigennützig; aber durch ein fatales
Geschick kommt es immer so, daß alles, was sie aufmuntert, dahinsieche,
alles, was sie lenkt, schlecht geht und alles verkommt, was sie erhalten
will, ausgenommen die Spielhäuser und Bordelle. Wer arbeiten will,
braucht nur Freiheit." -- Freilich, sagt er, wäre es besser, wenn die
Jugend sich den produktiven Arbeiten zuwenden wollte, statt auf die Stellen¬
jägerei zu gehen. Aber die Stellenjagd, die Sucht, von Staatsgeldern zu
vegetiren, ist ein unausrottbares französisches Erblaster, für das Courier die
Worte Philippe de Commes', des Chronisten aus dem fünfzehnten Jahrhun¬
dert, anführt. -- Seine gesunden volkswirtschaftlichen Ansichten bewährt
Courier auch im sechsten Briefe, wo er, ohne in die landläufige Phraseologie
der Freihandelsschule zu verfallen, die sogenannten Schwarzen Banden,
welche die großen Güter zerstückelten und also die Bildung eines freien
Bauernstandes beförderten, gegen das herrschende Vorurtheil in Schutz nimmt.
Dann schildert er die neue Pfaffenherrschaft, den Hof mit seinem alten und
neuen (napoleonischen) Adel, die Leiden der Presse, die Unbilden der Bureau¬
kratie, das falsche Pathos der Kammerdebatten.


Einen wären gern bis zu den alten Provinzialständen zurückgekehrt, die
Andern glaubten wenigstens die Bestätigungsrechte der Ministerialregierung
retten zu müssen. In Couriers Kopfe gestaltete sich die Frage sehr einfach,
weil er das wirkliche Volksleben vor sich sah und mit dem innigen Gefühl
der persönlichen Freiheit maß.

Im ersten Briefe an den Redacteur des Censor zeigt er die Fort¬
schritte der Zeiten. Früher konnte man einen Bauer tödten und brauchte
nur fünf Sous dafür zu bezahlen; jetzt kostet es dem Maire schon 7^/2 Sous
Stempelgebühren, einen Bauer nur einsperren zu lassen. Als einmal zu
Montaigne's Zeiten ein Bauer (vilain, manant, wir könnten auch Höriger
sagen) sich gegen einen Edelmann, der ihn umbringen wollte, vertheidigte, war
alle Welt erstaunt, und Montaigne nicht am wenigsten. „Der Kerl wurde
aufgehängt, und mit Recht, denn man muß nicht seinem Jahrhundert voran¬
eilen wollen." Unter Ludwig XIV. wußten nur erst die Nonnen, nach einer
Aeußerung La Bruyere's. daß ein Bauer auch ein Mensch sei; jetzt weiß es
alle Welt, aber bis zur praktischen Anwendung dieser Erkenntniß ist noch
ein weiter Weg. — Im zweiten Briefe bespricht er eine wohlmeinende Schrift,
welche die Pflege und den Schutz der Negierung für den Ackerbau und die
Landwirthschaft anruft. Courier protestirt dagegen. „Laßt die Regierung
Steuern erheben und Orden vertheilen, aber, um Gottes Willen, fordert sie
nicht auf, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen; wenn sie uns nicht ver¬
gessen kann, möge sie wenigstens so selten als möglich an uns denken.
Zweifelsohne sind ihre Absichten für uns die besten der Welt, ihre Ansichten
immer überaus weise und namentlich uneigennützig; aber durch ein fatales
Geschick kommt es immer so, daß alles, was sie aufmuntert, dahinsieche,
alles, was sie lenkt, schlecht geht und alles verkommt, was sie erhalten
will, ausgenommen die Spielhäuser und Bordelle. Wer arbeiten will,
braucht nur Freiheit." — Freilich, sagt er, wäre es besser, wenn die
Jugend sich den produktiven Arbeiten zuwenden wollte, statt auf die Stellen¬
jägerei zu gehen. Aber die Stellenjagd, die Sucht, von Staatsgeldern zu
vegetiren, ist ein unausrottbares französisches Erblaster, für das Courier die
Worte Philippe de Commes', des Chronisten aus dem fünfzehnten Jahrhun¬
dert, anführt. — Seine gesunden volkswirtschaftlichen Ansichten bewährt
Courier auch im sechsten Briefe, wo er, ohne in die landläufige Phraseologie
der Freihandelsschule zu verfallen, die sogenannten Schwarzen Banden,
welche die großen Güter zerstückelten und also die Bildung eines freien
Bauernstandes beförderten, gegen das herrschende Vorurtheil in Schutz nimmt.
Dann schildert er die neue Pfaffenherrschaft, den Hof mit seinem alten und
neuen (napoleonischen) Adel, die Leiden der Presse, die Unbilden der Bureau¬
kratie, das falsche Pathos der Kammerdebatten.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0446" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287158"/>
          <p xml:id="ID_1140" prev="#ID_1139"> Einen wären gern bis zu den alten Provinzialständen zurückgekehrt, die<lb/>
Andern glaubten wenigstens die Bestätigungsrechte der Ministerialregierung<lb/>
retten zu müssen. In Couriers Kopfe gestaltete sich die Frage sehr einfach,<lb/>
weil er das wirkliche Volksleben vor sich sah und mit dem innigen Gefühl<lb/>
der persönlichen Freiheit maß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1141"> Im ersten Briefe an den Redacteur des Censor zeigt er die Fort¬<lb/>
schritte der Zeiten. Früher konnte man einen Bauer tödten und brauchte<lb/>
nur fünf Sous dafür zu bezahlen; jetzt kostet es dem Maire schon 7^/2 Sous<lb/>
Stempelgebühren, einen Bauer nur einsperren zu lassen. Als einmal zu<lb/>
Montaigne's Zeiten ein Bauer (vilain, manant, wir könnten auch Höriger<lb/>
sagen) sich gegen einen Edelmann, der ihn umbringen wollte, vertheidigte, war<lb/>
alle Welt erstaunt, und Montaigne nicht am wenigsten. &#x201E;Der Kerl wurde<lb/>
aufgehängt, und mit Recht, denn man muß nicht seinem Jahrhundert voran¬<lb/>
eilen wollen." Unter Ludwig XIV. wußten nur erst die Nonnen, nach einer<lb/>
Aeußerung La Bruyere's. daß ein Bauer auch ein Mensch sei; jetzt weiß es<lb/>
alle Welt, aber bis zur praktischen Anwendung dieser Erkenntniß ist noch<lb/>
ein weiter Weg. &#x2014; Im zweiten Briefe bespricht er eine wohlmeinende Schrift,<lb/>
welche die Pflege und den Schutz der Negierung für den Ackerbau und die<lb/>
Landwirthschaft anruft. Courier protestirt dagegen. &#x201E;Laßt die Regierung<lb/>
Steuern erheben und Orden vertheilen, aber, um Gottes Willen, fordert sie<lb/>
nicht auf, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen; wenn sie uns nicht ver¬<lb/>
gessen kann, möge sie wenigstens so selten als möglich an uns denken.<lb/>
Zweifelsohne sind ihre Absichten für uns die besten der Welt, ihre Ansichten<lb/>
immer überaus weise und namentlich uneigennützig; aber durch ein fatales<lb/>
Geschick kommt es immer so, daß alles, was sie aufmuntert, dahinsieche,<lb/>
alles, was sie lenkt, schlecht geht und alles verkommt, was sie erhalten<lb/>
will, ausgenommen die Spielhäuser und Bordelle. Wer arbeiten will,<lb/>
braucht nur Freiheit." &#x2014; Freilich, sagt er, wäre es besser, wenn die<lb/>
Jugend sich den produktiven Arbeiten zuwenden wollte, statt auf die Stellen¬<lb/>
jägerei zu gehen. Aber die Stellenjagd, die Sucht, von Staatsgeldern zu<lb/>
vegetiren, ist ein unausrottbares französisches Erblaster, für das Courier die<lb/>
Worte Philippe de Commes', des Chronisten aus dem fünfzehnten Jahrhun¬<lb/>
dert, anführt. &#x2014; Seine gesunden volkswirtschaftlichen Ansichten bewährt<lb/>
Courier auch im sechsten Briefe, wo er, ohne in die landläufige Phraseologie<lb/>
der Freihandelsschule zu verfallen, die sogenannten Schwarzen Banden,<lb/>
welche die großen Güter zerstückelten und also die Bildung eines freien<lb/>
Bauernstandes beförderten, gegen das herrschende Vorurtheil in Schutz nimmt.<lb/>
Dann schildert er die neue Pfaffenherrschaft, den Hof mit seinem alten und<lb/>
neuen (napoleonischen) Adel, die Leiden der Presse, die Unbilden der Bureau¬<lb/>
kratie, das falsche Pathos der Kammerdebatten.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0446] Einen wären gern bis zu den alten Provinzialständen zurückgekehrt, die Andern glaubten wenigstens die Bestätigungsrechte der Ministerialregierung retten zu müssen. In Couriers Kopfe gestaltete sich die Frage sehr einfach, weil er das wirkliche Volksleben vor sich sah und mit dem innigen Gefühl der persönlichen Freiheit maß. Im ersten Briefe an den Redacteur des Censor zeigt er die Fort¬ schritte der Zeiten. Früher konnte man einen Bauer tödten und brauchte nur fünf Sous dafür zu bezahlen; jetzt kostet es dem Maire schon 7^/2 Sous Stempelgebühren, einen Bauer nur einsperren zu lassen. Als einmal zu Montaigne's Zeiten ein Bauer (vilain, manant, wir könnten auch Höriger sagen) sich gegen einen Edelmann, der ihn umbringen wollte, vertheidigte, war alle Welt erstaunt, und Montaigne nicht am wenigsten. „Der Kerl wurde aufgehängt, und mit Recht, denn man muß nicht seinem Jahrhundert voran¬ eilen wollen." Unter Ludwig XIV. wußten nur erst die Nonnen, nach einer Aeußerung La Bruyere's. daß ein Bauer auch ein Mensch sei; jetzt weiß es alle Welt, aber bis zur praktischen Anwendung dieser Erkenntniß ist noch ein weiter Weg. — Im zweiten Briefe bespricht er eine wohlmeinende Schrift, welche die Pflege und den Schutz der Negierung für den Ackerbau und die Landwirthschaft anruft. Courier protestirt dagegen. „Laßt die Regierung Steuern erheben und Orden vertheilen, aber, um Gottes Willen, fordert sie nicht auf, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen; wenn sie uns nicht ver¬ gessen kann, möge sie wenigstens so selten als möglich an uns denken. Zweifelsohne sind ihre Absichten für uns die besten der Welt, ihre Ansichten immer überaus weise und namentlich uneigennützig; aber durch ein fatales Geschick kommt es immer so, daß alles, was sie aufmuntert, dahinsieche, alles, was sie lenkt, schlecht geht und alles verkommt, was sie erhalten will, ausgenommen die Spielhäuser und Bordelle. Wer arbeiten will, braucht nur Freiheit." — Freilich, sagt er, wäre es besser, wenn die Jugend sich den produktiven Arbeiten zuwenden wollte, statt auf die Stellen¬ jägerei zu gehen. Aber die Stellenjagd, die Sucht, von Staatsgeldern zu vegetiren, ist ein unausrottbares französisches Erblaster, für das Courier die Worte Philippe de Commes', des Chronisten aus dem fünfzehnten Jahrhun¬ dert, anführt. — Seine gesunden volkswirtschaftlichen Ansichten bewährt Courier auch im sechsten Briefe, wo er, ohne in die landläufige Phraseologie der Freihandelsschule zu verfallen, die sogenannten Schwarzen Banden, welche die großen Güter zerstückelten und also die Bildung eines freien Bauernstandes beförderten, gegen das herrschende Vorurtheil in Schutz nimmt. Dann schildert er die neue Pfaffenherrschaft, den Hof mit seinem alten und neuen (napoleonischen) Adel, die Leiden der Presse, die Unbilden der Bureau¬ kratie, das falsche Pathos der Kammerdebatten.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/446
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/446>, abgerufen am 04.07.2024.