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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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schen Sclaven bezeichnen. Ueberall werden wir daran gemahnt, daß wir uns
in der Zeit eifriger naturhistorischer Studien befinden, und der oft wieder¬
holte Körper des an die Fichte gehängten Marsyas verdankt sicherlich seinen
Ursprung nicht zum geringsten Theil dem Interesse an anatomischen Unter¬
suchungen, welches in dieser Zeit aufblühte. Einen ähnlichen Sinn offenbart
der unter dem Namen des barbennischen Fauns berühmte Satyr in der
Glyptothek zu München, in welchem der schwere Schlaf des weinseligen
Naturmenschen meisterhaft durch den ganzen Körper durchgeführt ist; oder in
minder poetischer aber nicht minder virtuoser Weise der sog. borghesische
Fechter, welchen man mit Erfolg hat benutzen können, um daran die ge-
sammte Anatomie für Künstler zu demonstriren, wie ja auch im Laokoon
ein ähnlicher Zug unverkennbar ist.

Gleicher Naturalismus herrscht in der Portraitbildung, derjenigen Kunst¬
art, welche jetzt alle übrigen an Ausdehnung erreicht oder gar übertrifft;
waren doch dem einen Demetrios von Phaleron so viel Statuen errichtet
worden wie Tage im Jahre sind! Lysistratos, der Bruder Lysipps, hatte
die Erfindung gemacht, Gesichter in Gips abzuformen und mit Hilfe dieser
Formen Wachsbilder von sprechender Natürlichkeit herzustellen, ein Verfahren,
das von großem Einfluß auf die ganze Portraitbildung geworden ist. In der
Zeit der höchsten attischen Kunstblüthe hatte man sich mit Jdealportraits be¬
gnügt, welche, analog den Götterbildern, nur den Grundcharakter der dar¬
gestellten Persönlichkeit, diesen aber klar und rein von allem Unwesentlichen
wiedergeben wollten und sollten. Die folgende Zeit hatte sich einer natür¬
licheren Darstellungsweise zugewandt und mehr Rücksicht auf die kleinen Un¬
Vollkommenheiten der wirklichen Erscheinung genommen, sodaß die Bilder
lebenswahrer wurden, ohne doch .den Grundzug eines wahrhaften Charakter¬
bildes zu verlieren. Perikles und Sophokles. Aesop und Menander mögen
als Beispiele der beiden Richtungen gelten. Jetzt überwog aber immer mehr
das Interesse an den Details der äußeren Form; diese wurden zum Theil
Mit wahrer Virtuosität dargestellt, aber die innere tiefere Charakteristik litt
nur zu oft dabei Schaden, die Wirklichkeit ward an Stelle der Wahrheit,
Natürlichkeit an Stelle der Natur gesetzt. Und doch wirken diese Portraits
Meist befriedigender, als die leeren Götterbilder dieser Epoche, weil einmal
der Sinn der Zeit auf jene Darstellungsweise gerichtet ist und hier ein seinen
Neigungen und seinem Können entsprechendes Feld findet.

Mit dieser Umwandelung der Portraitkunst steht eine entsprechende Aende¬
rung der Gewandbehandlung, welche gleichfalls schon in der vorhergehenden
Periode angebahnt war. im Zusammenhang. Die älteste Kunst empfand Gewand
und Körper als widerstreitende Elemente, deren Vereinigung ihr nicht gelang;
entweder drängte der Körper das Gewand ganz in den Hintergrund oder dieses


Grenzboten III. 1868. 49

schen Sclaven bezeichnen. Ueberall werden wir daran gemahnt, daß wir uns
in der Zeit eifriger naturhistorischer Studien befinden, und der oft wieder¬
holte Körper des an die Fichte gehängten Marsyas verdankt sicherlich seinen
Ursprung nicht zum geringsten Theil dem Interesse an anatomischen Unter¬
suchungen, welches in dieser Zeit aufblühte. Einen ähnlichen Sinn offenbart
der unter dem Namen des barbennischen Fauns berühmte Satyr in der
Glyptothek zu München, in welchem der schwere Schlaf des weinseligen
Naturmenschen meisterhaft durch den ganzen Körper durchgeführt ist; oder in
minder poetischer aber nicht minder virtuoser Weise der sog. borghesische
Fechter, welchen man mit Erfolg hat benutzen können, um daran die ge-
sammte Anatomie für Künstler zu demonstriren, wie ja auch im Laokoon
ein ähnlicher Zug unverkennbar ist.

Gleicher Naturalismus herrscht in der Portraitbildung, derjenigen Kunst¬
art, welche jetzt alle übrigen an Ausdehnung erreicht oder gar übertrifft;
waren doch dem einen Demetrios von Phaleron so viel Statuen errichtet
worden wie Tage im Jahre sind! Lysistratos, der Bruder Lysipps, hatte
die Erfindung gemacht, Gesichter in Gips abzuformen und mit Hilfe dieser
Formen Wachsbilder von sprechender Natürlichkeit herzustellen, ein Verfahren,
das von großem Einfluß auf die ganze Portraitbildung geworden ist. In der
Zeit der höchsten attischen Kunstblüthe hatte man sich mit Jdealportraits be¬
gnügt, welche, analog den Götterbildern, nur den Grundcharakter der dar¬
gestellten Persönlichkeit, diesen aber klar und rein von allem Unwesentlichen
wiedergeben wollten und sollten. Die folgende Zeit hatte sich einer natür¬
licheren Darstellungsweise zugewandt und mehr Rücksicht auf die kleinen Un¬
Vollkommenheiten der wirklichen Erscheinung genommen, sodaß die Bilder
lebenswahrer wurden, ohne doch .den Grundzug eines wahrhaften Charakter¬
bildes zu verlieren. Perikles und Sophokles. Aesop und Menander mögen
als Beispiele der beiden Richtungen gelten. Jetzt überwog aber immer mehr
das Interesse an den Details der äußeren Form; diese wurden zum Theil
Mit wahrer Virtuosität dargestellt, aber die innere tiefere Charakteristik litt
nur zu oft dabei Schaden, die Wirklichkeit ward an Stelle der Wahrheit,
Natürlichkeit an Stelle der Natur gesetzt. Und doch wirken diese Portraits
Meist befriedigender, als die leeren Götterbilder dieser Epoche, weil einmal
der Sinn der Zeit auf jene Darstellungsweise gerichtet ist und hier ein seinen
Neigungen und seinem Können entsprechendes Feld findet.

Mit dieser Umwandelung der Portraitkunst steht eine entsprechende Aende¬
rung der Gewandbehandlung, welche gleichfalls schon in der vorhergehenden
Periode angebahnt war. im Zusammenhang. Die älteste Kunst empfand Gewand
und Körper als widerstreitende Elemente, deren Vereinigung ihr nicht gelang;
entweder drängte der Körper das Gewand ganz in den Hintergrund oder dieses


Grenzboten III. 1868. 49
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[0413] schen Sclaven bezeichnen. Ueberall werden wir daran gemahnt, daß wir uns in der Zeit eifriger naturhistorischer Studien befinden, und der oft wieder¬ holte Körper des an die Fichte gehängten Marsyas verdankt sicherlich seinen Ursprung nicht zum geringsten Theil dem Interesse an anatomischen Unter¬ suchungen, welches in dieser Zeit aufblühte. Einen ähnlichen Sinn offenbart der unter dem Namen des barbennischen Fauns berühmte Satyr in der Glyptothek zu München, in welchem der schwere Schlaf des weinseligen Naturmenschen meisterhaft durch den ganzen Körper durchgeführt ist; oder in minder poetischer aber nicht minder virtuoser Weise der sog. borghesische Fechter, welchen man mit Erfolg hat benutzen können, um daran die ge- sammte Anatomie für Künstler zu demonstriren, wie ja auch im Laokoon ein ähnlicher Zug unverkennbar ist. Gleicher Naturalismus herrscht in der Portraitbildung, derjenigen Kunst¬ art, welche jetzt alle übrigen an Ausdehnung erreicht oder gar übertrifft; waren doch dem einen Demetrios von Phaleron so viel Statuen errichtet worden wie Tage im Jahre sind! Lysistratos, der Bruder Lysipps, hatte die Erfindung gemacht, Gesichter in Gips abzuformen und mit Hilfe dieser Formen Wachsbilder von sprechender Natürlichkeit herzustellen, ein Verfahren, das von großem Einfluß auf die ganze Portraitbildung geworden ist. In der Zeit der höchsten attischen Kunstblüthe hatte man sich mit Jdealportraits be¬ gnügt, welche, analog den Götterbildern, nur den Grundcharakter der dar¬ gestellten Persönlichkeit, diesen aber klar und rein von allem Unwesentlichen wiedergeben wollten und sollten. Die folgende Zeit hatte sich einer natür¬ licheren Darstellungsweise zugewandt und mehr Rücksicht auf die kleinen Un¬ Vollkommenheiten der wirklichen Erscheinung genommen, sodaß die Bilder lebenswahrer wurden, ohne doch .den Grundzug eines wahrhaften Charakter¬ bildes zu verlieren. Perikles und Sophokles. Aesop und Menander mögen als Beispiele der beiden Richtungen gelten. Jetzt überwog aber immer mehr das Interesse an den Details der äußeren Form; diese wurden zum Theil Mit wahrer Virtuosität dargestellt, aber die innere tiefere Charakteristik litt nur zu oft dabei Schaden, die Wirklichkeit ward an Stelle der Wahrheit, Natürlichkeit an Stelle der Natur gesetzt. Und doch wirken diese Portraits Meist befriedigender, als die leeren Götterbilder dieser Epoche, weil einmal der Sinn der Zeit auf jene Darstellungsweise gerichtet ist und hier ein seinen Neigungen und seinem Können entsprechendes Feld findet. Mit dieser Umwandelung der Portraitkunst steht eine entsprechende Aende¬ rung der Gewandbehandlung, welche gleichfalls schon in der vorhergehenden Periode angebahnt war. im Zusammenhang. Die älteste Kunst empfand Gewand und Körper als widerstreitende Elemente, deren Vereinigung ihr nicht gelang; entweder drängte der Körper das Gewand ganz in den Hintergrund oder dieses Grenzboten III. 1868. 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/413>, abgerufen am 04.07.2024.