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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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ekstatischer Begeisterung, wie in der Unglücksprophetin Kassandra -- kurz
wir machen die ganze Skala leidenschaftlicher Affecte durch. Namentlich aus
Rhodos war diese Ausdrucksweise zu Hause, und zwei Marmorwerke der
rhodischen Schule sind uns noch als Belege dieser Richtung erhalten: das
eine ist die Gruppe des sogenannten farnesischen Stiers im Museum von Ne"
apel. Der Gegenstand ist geradezu der Schlußscene einer euripideischen Tragödie
entnommen: Antiope, die frühere Geliebte des Zeus, ist ihrer Peinigerin
Dirke entflohen, aber auf dem Gebirge Kithairon wieder ergriffen worden.
Dirke beauftragt zwei Hirten, die Missethäterin von einem wüthenden Stier
zu Tode schleifen zu lassen. Die beiden Jünglinge, Amphion und Zethos,
werden von Antiope als ihre Söhne erkannt und durch die Schilderung der
von der Mutter ausgestandenen Leiden bewegt beschließen sie, nach der auch
in deutschen Mährchen üblichen Moral, die Strafe an der harten Königin
selber zu vollziehen. Um dieser Pietätspflicht zu genügen begeben sie sich
selbst in die größte Gefahr, indem es ihnen nur mit Mühe gelingt, auf den
steilen Felszacken des Gebirges den rasenden Stier zurückzuhalten, bis die gefesselt
am Boden liegende Dirke gehörig befestigt ist; nur noch ein Ruck, und die
Bombe wird platzen. Dies ist der vom Künstler dargestellte Moment. Der
Gegenstand ist innerlich wohl motivirt, der pathetische Moment in seiner
vollen Schärfe erfaßt, Einzelnes, wie namentlich die Gewandung, meister"
haft ausgeführt, die ganze Gruppe mit äußerster Kunst aufgebaut -- nur
will sie nicht in einen engen Saal eingezwängt fein, wie in Neapel oder
im berliner neuen Museum, sondern verlangt einen weiten freien Raum und
große Umgebungen, etwa wie sie ihr vor der Orangerie in Sanssouci zu
Theil geworden sind -- und doch läßt sie mehr als kalt. Von keiner Seite
können wir sie vollständig übersehen, überall begegnen wir dem nicht ganz
ausgeglichenen Widerstreit zwischen der Absicht der Künstler und dem vor
uns stehenden Werke.

Ein andrer Mangel haftet an dem zweiten Werke der rhodischen Kunst,
der Laokoongruppe. Auch hier eine aufs Aeußerste und bis ins Einzelnste
durchdachte Composition, merkliches Raffinement in der meisterhaften Dar¬
stellung des schmerzdurchwühlten Menschenkörpers, in der Behandlung des
Gewandes; und doch, volle Befriedigung erhalten wir nicht. Das schreck¬
liche Leiden ist in keiner Andeutung motivirt (denn wenn uns die Sage vom
Götterzorn gegen den Priester erzählt, hier ist es eben kein leidender Priester,
sondern ein leidender Mensch), und überdies tritt das Leiden nur als Körper¬
schmerz hervor. Denken wir nur an die Niobe! Wie edel steht die von den
Göttern gestrafte Königin da in ihrem Schmerz! Da ist wahres Pathos,
beim Laokoon Pathologie. Und noch Eins kann dieser Vergleich lehren: bei
den Schöpfungen eines Phidias, vor der Gruppe der Niobe vergessen wir


ekstatischer Begeisterung, wie in der Unglücksprophetin Kassandra — kurz
wir machen die ganze Skala leidenschaftlicher Affecte durch. Namentlich aus
Rhodos war diese Ausdrucksweise zu Hause, und zwei Marmorwerke der
rhodischen Schule sind uns noch als Belege dieser Richtung erhalten: das
eine ist die Gruppe des sogenannten farnesischen Stiers im Museum von Ne«
apel. Der Gegenstand ist geradezu der Schlußscene einer euripideischen Tragödie
entnommen: Antiope, die frühere Geliebte des Zeus, ist ihrer Peinigerin
Dirke entflohen, aber auf dem Gebirge Kithairon wieder ergriffen worden.
Dirke beauftragt zwei Hirten, die Missethäterin von einem wüthenden Stier
zu Tode schleifen zu lassen. Die beiden Jünglinge, Amphion und Zethos,
werden von Antiope als ihre Söhne erkannt und durch die Schilderung der
von der Mutter ausgestandenen Leiden bewegt beschließen sie, nach der auch
in deutschen Mährchen üblichen Moral, die Strafe an der harten Königin
selber zu vollziehen. Um dieser Pietätspflicht zu genügen begeben sie sich
selbst in die größte Gefahr, indem es ihnen nur mit Mühe gelingt, auf den
steilen Felszacken des Gebirges den rasenden Stier zurückzuhalten, bis die gefesselt
am Boden liegende Dirke gehörig befestigt ist; nur noch ein Ruck, und die
Bombe wird platzen. Dies ist der vom Künstler dargestellte Moment. Der
Gegenstand ist innerlich wohl motivirt, der pathetische Moment in seiner
vollen Schärfe erfaßt, Einzelnes, wie namentlich die Gewandung, meister»
haft ausgeführt, die ganze Gruppe mit äußerster Kunst aufgebaut — nur
will sie nicht in einen engen Saal eingezwängt fein, wie in Neapel oder
im berliner neuen Museum, sondern verlangt einen weiten freien Raum und
große Umgebungen, etwa wie sie ihr vor der Orangerie in Sanssouci zu
Theil geworden sind — und doch läßt sie mehr als kalt. Von keiner Seite
können wir sie vollständig übersehen, überall begegnen wir dem nicht ganz
ausgeglichenen Widerstreit zwischen der Absicht der Künstler und dem vor
uns stehenden Werke.

Ein andrer Mangel haftet an dem zweiten Werke der rhodischen Kunst,
der Laokoongruppe. Auch hier eine aufs Aeußerste und bis ins Einzelnste
durchdachte Composition, merkliches Raffinement in der meisterhaften Dar¬
stellung des schmerzdurchwühlten Menschenkörpers, in der Behandlung des
Gewandes; und doch, volle Befriedigung erhalten wir nicht. Das schreck¬
liche Leiden ist in keiner Andeutung motivirt (denn wenn uns die Sage vom
Götterzorn gegen den Priester erzählt, hier ist es eben kein leidender Priester,
sondern ein leidender Mensch), und überdies tritt das Leiden nur als Körper¬
schmerz hervor. Denken wir nur an die Niobe! Wie edel steht die von den
Göttern gestrafte Königin da in ihrem Schmerz! Da ist wahres Pathos,
beim Laokoon Pathologie. Und noch Eins kann dieser Vergleich lehren: bei
den Schöpfungen eines Phidias, vor der Gruppe der Niobe vergessen wir


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/410>, abgerufen am 04.07.2024.