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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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Hältnisse, in welchen das Leben Jesu selbst von seiner Geburt bis zum Tode
sich mit der Zeitgeschichte berührt.

Es ist nicht blos der Umfang dieses von jüdischen und christlichen Schrift¬
stellern bearbeiteten Gebiets, was eine abgesonderte Darstellung rechtfertigt,
es ist wirklich ein historisches Interesse, dem sie entgegenkommt. Eine wahr¬
haft geschichtliche Behandlung ist doch nur da möglich, wo die Erzählung
Selbstzweck ist und durch keine polemischen Abschweifungen gestört wird. Man
wird finden, daß diese Ausführungen eigentlich unbefangener wirken als ein¬
gestreut in Werke, wo sie zuweilen fast wie Lückenbüßer erscheinen. Obwohl
der Verfasser aus seinem theologischen Standpunkt keinen Hehl macht, hat er
doch seinen Gegenstand so abgegränzt, daß er einzig dem Historiker das Wort
lassen kann. Dieser rein geschichtliche Charakter berührt am wohlthuendsten
eben im letzten Abschnitt, wo das Leben Jesu einfach und anspruchlos als
Theil der Zeitgeschichte beschrieben wird. Was wir hier erhalten, ist im
Grund ein vollständiges Leben Jesu. Und es klingt fast zu bescheiden, wenn
im Vorwort von der Beschreibung der Aufgabe die Rede ist, sofern nemlich
Jesus hier "nicht als der Welt Heiland, nicht als der Herzen Seligmacher,
sondern als der Unterthan des Antipas, als der Gegner der Rabbiner, als
der Angeklagte des Synedriums" betrachtet werden soll. Jesus "als der
Welt Heiland, als der Herzen Seligmacher" ist eben nicht Gegenstand der ge¬
schichtlichen Erzählung, sondern Gegenstand des Glaubens und der Glaubens¬
lehre, und der Versuch mußte einmal gemacht werden, mit Weglassung aller
jener Zwischenprocesse, ohne die kritisch-literarische Einleitung, ohne Analyse
der Mythenentwicklung, und vor Allem ohne anspruchsvolle Vorlesungen aus
der Dogmatik und Religionsphilosophie, ohne Speculationen über Wunder
und Gottmenschlichkeit einfach dasjenige zu erzählen, was wir vom Leben des
Menschen Jesus wissen.

Und der Verfasser weiß zu erzählen. Schon in seinem "Apostel Paulus"
hat er gezeigt, wie sehr er den geschichtlichen Ton zu treffen versteht. Aus
fleißig herbeigetragenen Details setzen sich scheinbar kunstlos Geschichtsbilder
zusammen, die in hohem Grade anziehen. Die gelehrte Discussion verbirgt
sich vollständig hinter der einfachen Erzählung. Dabei ist freilich zu bemer¬
ken, daß die Materien, welche hier zu behandeln waren, noch keineswegs alle
so gleichmäßig aufgehellt sind, daß künftig überhaupt die Forschung ihr Amt
einfach an die Erzählung abzugeben hätte. Es sind noch immer schwierige
Probleme zu lösen oder hypothetische Resultate genauer zu begründen. Wir
erinnern nur an die schwierige Frage, wie des Näheren die messianischen Hoff¬
nungen und Erwartungen beschaffen waren, die zur Zeit Jesu das jüdische
Volk bewegten, eine Frage über die noch nicht das letzte Wort gesagt ist
und deren Wichtigkeit in die Augen springt. Denn wenn die Stiftung der


Hältnisse, in welchen das Leben Jesu selbst von seiner Geburt bis zum Tode
sich mit der Zeitgeschichte berührt.

Es ist nicht blos der Umfang dieses von jüdischen und christlichen Schrift¬
stellern bearbeiteten Gebiets, was eine abgesonderte Darstellung rechtfertigt,
es ist wirklich ein historisches Interesse, dem sie entgegenkommt. Eine wahr¬
haft geschichtliche Behandlung ist doch nur da möglich, wo die Erzählung
Selbstzweck ist und durch keine polemischen Abschweifungen gestört wird. Man
wird finden, daß diese Ausführungen eigentlich unbefangener wirken als ein¬
gestreut in Werke, wo sie zuweilen fast wie Lückenbüßer erscheinen. Obwohl
der Verfasser aus seinem theologischen Standpunkt keinen Hehl macht, hat er
doch seinen Gegenstand so abgegränzt, daß er einzig dem Historiker das Wort
lassen kann. Dieser rein geschichtliche Charakter berührt am wohlthuendsten
eben im letzten Abschnitt, wo das Leben Jesu einfach und anspruchlos als
Theil der Zeitgeschichte beschrieben wird. Was wir hier erhalten, ist im
Grund ein vollständiges Leben Jesu. Und es klingt fast zu bescheiden, wenn
im Vorwort von der Beschreibung der Aufgabe die Rede ist, sofern nemlich
Jesus hier „nicht als der Welt Heiland, nicht als der Herzen Seligmacher,
sondern als der Unterthan des Antipas, als der Gegner der Rabbiner, als
der Angeklagte des Synedriums" betrachtet werden soll. Jesus „als der
Welt Heiland, als der Herzen Seligmacher" ist eben nicht Gegenstand der ge¬
schichtlichen Erzählung, sondern Gegenstand des Glaubens und der Glaubens¬
lehre, und der Versuch mußte einmal gemacht werden, mit Weglassung aller
jener Zwischenprocesse, ohne die kritisch-literarische Einleitung, ohne Analyse
der Mythenentwicklung, und vor Allem ohne anspruchsvolle Vorlesungen aus
der Dogmatik und Religionsphilosophie, ohne Speculationen über Wunder
und Gottmenschlichkeit einfach dasjenige zu erzählen, was wir vom Leben des
Menschen Jesus wissen.

Und der Verfasser weiß zu erzählen. Schon in seinem „Apostel Paulus"
hat er gezeigt, wie sehr er den geschichtlichen Ton zu treffen versteht. Aus
fleißig herbeigetragenen Details setzen sich scheinbar kunstlos Geschichtsbilder
zusammen, die in hohem Grade anziehen. Die gelehrte Discussion verbirgt
sich vollständig hinter der einfachen Erzählung. Dabei ist freilich zu bemer¬
ken, daß die Materien, welche hier zu behandeln waren, noch keineswegs alle
so gleichmäßig aufgehellt sind, daß künftig überhaupt die Forschung ihr Amt
einfach an die Erzählung abzugeben hätte. Es sind noch immer schwierige
Probleme zu lösen oder hypothetische Resultate genauer zu begründen. Wir
erinnern nur an die schwierige Frage, wie des Näheren die messianischen Hoff¬
nungen und Erwartungen beschaffen waren, die zur Zeit Jesu das jüdische
Volk bewegten, eine Frage über die noch nicht das letzte Wort gesagt ist
und deren Wichtigkeit in die Augen springt. Denn wenn die Stiftung der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/322>, abgerufen am 03.07.2024.