Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

Bild:
<< vorherige Seite

der Combination wiederherzustellen, was das Gedächtniß-der Geschichte nun
einmal verloren hat; sie entspringen vielmehr aus dem tiefen Bedürfniß unse¬
rer Zeit, endlich einmal eine menschliche Persönlichkeit an die Stelle eines
unbegriffenen und unbegreiflichen Doppelwesens zu setzen. Aber nur daß
man nicht wieder verwische, was geschichtliche Kenntniß ist und was immer
nur das Gebiet der Hypothese bleiben wird. Es wäre ein Rückfall, wenn
man die Grenzlinien wieder verrücken wollte, welche der schärfste Kritiker
auf diesem Felde wohlbemessen abgesteckt hat. Strauß ist am größten in der
Selbstbeschränkung die er sich auferlegt. Kein Bearbeiter ist anscheinend so
skeptisch wie er und doch gewinnt man eben bei ihm ein Gefühl der Sicher¬
heit wie anders nirgendwo; es mögen nicht wenige Leser sein, denen, so
oft wieder ein neues Leben Jesu erscheint, das Strauß'sche im Werthe steigt.

Noch immer geht das, was wir vom Leben unsres Religionsstifters
wissen, auf den Inhalt weniger Blätter zusammen. Und wenn jetzt das, was
wir Beiwerk nennen, einen so großen Raum in der Biographie Jesu einzu¬
nehmen pflegt, so hat daran die Biographie im engeren Sinn nur einen sehr
mittelbaren Gewinn. Sein Werth liegt aber nach einer andern Seite. Kann
es die verloren gegangenen individuellen Züge des Christusbildes nicht wieder
herstellen, so dient es dafür dazu, das Christenthum als geschichtliche Er¬
scheinung verständlicher zu machen. Es dient also, kann man sagen, einem
höheren geschichtlichen Interesse. Geschichtlich betrachtet kommt weniger da¬
rauf an, welche eigenthümlichen Züge die Persönlichkeit Jesu trug, als viel¬
mehr daraus, wie sich der durchgreifende Weltumschwung vollzog, der sich an
seinen Namen knüpft. Und man wird ja wohl sagen dürfen, daß weniger
der historische Jesus diese Wirkungen ausgeübt hat als der ideale Christus,
den sich frühzeitig die Gemeinde bildete. Es ist doch nicht zufällig, daß die
größten Wirkungen nicht von demjenigen Kreise ausgingen, der durch per¬
sönliches Zusammenleben und Erinnerung am engsten mit dem Meister zu¬
sammenhing; denn hier kam man allem Anschein nach nicht über eine Modi¬
fikation des Judenthums hinaus. Welterneuernd wurde das Christenthum
doch erst in seiner paulinischen Form, also durch den Apostel, für welchen
der geschichtliche Jesus verschwand hinter dem dogmatischen Jesus. --

Bekannt ist das Wort von Baur über die Auferstehung: "Was für die
Geschichte die nothwendige Voraussetzung für alles folgende ist, ist nicht
sowohl das Factische der Auferstehung Jesu selbst, als vielmehr der Glaube
an dasselbe. Was die Auferstehung an sich ist, liegt außerhalb des Kreises
der geschichtlichen Untersuchung. Die geschichtliche Betrachtung hat sich nur
daran zu halten, daß für den Glauben der Jünger die Auferstehung Jesu
zur festesten und unumstößlichen Gewißheit geworden ist." Das Wort klingt
Paradox und ist mehrfach angegriffen oder mißdeutet worden, und doch ist


der Combination wiederherzustellen, was das Gedächtniß-der Geschichte nun
einmal verloren hat; sie entspringen vielmehr aus dem tiefen Bedürfniß unse¬
rer Zeit, endlich einmal eine menschliche Persönlichkeit an die Stelle eines
unbegriffenen und unbegreiflichen Doppelwesens zu setzen. Aber nur daß
man nicht wieder verwische, was geschichtliche Kenntniß ist und was immer
nur das Gebiet der Hypothese bleiben wird. Es wäre ein Rückfall, wenn
man die Grenzlinien wieder verrücken wollte, welche der schärfste Kritiker
auf diesem Felde wohlbemessen abgesteckt hat. Strauß ist am größten in der
Selbstbeschränkung die er sich auferlegt. Kein Bearbeiter ist anscheinend so
skeptisch wie er und doch gewinnt man eben bei ihm ein Gefühl der Sicher¬
heit wie anders nirgendwo; es mögen nicht wenige Leser sein, denen, so
oft wieder ein neues Leben Jesu erscheint, das Strauß'sche im Werthe steigt.

Noch immer geht das, was wir vom Leben unsres Religionsstifters
wissen, auf den Inhalt weniger Blätter zusammen. Und wenn jetzt das, was
wir Beiwerk nennen, einen so großen Raum in der Biographie Jesu einzu¬
nehmen pflegt, so hat daran die Biographie im engeren Sinn nur einen sehr
mittelbaren Gewinn. Sein Werth liegt aber nach einer andern Seite. Kann
es die verloren gegangenen individuellen Züge des Christusbildes nicht wieder
herstellen, so dient es dafür dazu, das Christenthum als geschichtliche Er¬
scheinung verständlicher zu machen. Es dient also, kann man sagen, einem
höheren geschichtlichen Interesse. Geschichtlich betrachtet kommt weniger da¬
rauf an, welche eigenthümlichen Züge die Persönlichkeit Jesu trug, als viel¬
mehr daraus, wie sich der durchgreifende Weltumschwung vollzog, der sich an
seinen Namen knüpft. Und man wird ja wohl sagen dürfen, daß weniger
der historische Jesus diese Wirkungen ausgeübt hat als der ideale Christus,
den sich frühzeitig die Gemeinde bildete. Es ist doch nicht zufällig, daß die
größten Wirkungen nicht von demjenigen Kreise ausgingen, der durch per¬
sönliches Zusammenleben und Erinnerung am engsten mit dem Meister zu¬
sammenhing; denn hier kam man allem Anschein nach nicht über eine Modi¬
fikation des Judenthums hinaus. Welterneuernd wurde das Christenthum
doch erst in seiner paulinischen Form, also durch den Apostel, für welchen
der geschichtliche Jesus verschwand hinter dem dogmatischen Jesus. —

Bekannt ist das Wort von Baur über die Auferstehung: „Was für die
Geschichte die nothwendige Voraussetzung für alles folgende ist, ist nicht
sowohl das Factische der Auferstehung Jesu selbst, als vielmehr der Glaube
an dasselbe. Was die Auferstehung an sich ist, liegt außerhalb des Kreises
der geschichtlichen Untersuchung. Die geschichtliche Betrachtung hat sich nur
daran zu halten, daß für den Glauben der Jünger die Auferstehung Jesu
zur festesten und unumstößlichen Gewißheit geworden ist." Das Wort klingt
Paradox und ist mehrfach angegriffen oder mißdeutet worden, und doch ist


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0319" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287031"/>
          <p xml:id="ID_806" prev="#ID_805"> der Combination wiederherzustellen, was das Gedächtniß-der Geschichte nun<lb/>
einmal verloren hat; sie entspringen vielmehr aus dem tiefen Bedürfniß unse¬<lb/>
rer Zeit, endlich einmal eine menschliche Persönlichkeit an die Stelle eines<lb/>
unbegriffenen und unbegreiflichen Doppelwesens zu setzen. Aber nur daß<lb/>
man nicht wieder verwische, was geschichtliche Kenntniß ist und was immer<lb/>
nur das Gebiet der Hypothese bleiben wird. Es wäre ein Rückfall, wenn<lb/>
man die Grenzlinien wieder verrücken wollte, welche der schärfste Kritiker<lb/>
auf diesem Felde wohlbemessen abgesteckt hat. Strauß ist am größten in der<lb/>
Selbstbeschränkung die er sich auferlegt. Kein Bearbeiter ist anscheinend so<lb/>
skeptisch wie er und doch gewinnt man eben bei ihm ein Gefühl der Sicher¬<lb/>
heit wie anders nirgendwo; es mögen nicht wenige Leser sein, denen, so<lb/>
oft wieder ein neues Leben Jesu erscheint, das Strauß'sche im Werthe steigt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_807"> Noch immer geht das, was wir vom Leben unsres Religionsstifters<lb/>
wissen, auf den Inhalt weniger Blätter zusammen. Und wenn jetzt das, was<lb/>
wir Beiwerk nennen, einen so großen Raum in der Biographie Jesu einzu¬<lb/>
nehmen pflegt, so hat daran die Biographie im engeren Sinn nur einen sehr<lb/>
mittelbaren Gewinn. Sein Werth liegt aber nach einer andern Seite. Kann<lb/>
es die verloren gegangenen individuellen Züge des Christusbildes nicht wieder<lb/>
herstellen, so dient es dafür dazu, das Christenthum als geschichtliche Er¬<lb/>
scheinung verständlicher zu machen. Es dient also, kann man sagen, einem<lb/>
höheren geschichtlichen Interesse. Geschichtlich betrachtet kommt weniger da¬<lb/>
rauf an, welche eigenthümlichen Züge die Persönlichkeit Jesu trug, als viel¬<lb/>
mehr daraus, wie sich der durchgreifende Weltumschwung vollzog, der sich an<lb/>
seinen Namen knüpft. Und man wird ja wohl sagen dürfen, daß weniger<lb/>
der historische Jesus diese Wirkungen ausgeübt hat als der ideale Christus,<lb/>
den sich frühzeitig die Gemeinde bildete. Es ist doch nicht zufällig, daß die<lb/>
größten Wirkungen nicht von demjenigen Kreise ausgingen, der durch per¬<lb/>
sönliches Zusammenleben und Erinnerung am engsten mit dem Meister zu¬<lb/>
sammenhing; denn hier kam man allem Anschein nach nicht über eine Modi¬<lb/>
fikation des Judenthums hinaus. Welterneuernd wurde das Christenthum<lb/>
doch erst in seiner paulinischen Form, also durch den Apostel, für welchen<lb/>
der geschichtliche Jesus verschwand hinter dem dogmatischen Jesus. &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_808" next="#ID_809"> Bekannt ist das Wort von Baur über die Auferstehung: &#x201E;Was für die<lb/>
Geschichte die nothwendige Voraussetzung für alles folgende ist, ist nicht<lb/>
sowohl das Factische der Auferstehung Jesu selbst, als vielmehr der Glaube<lb/>
an dasselbe. Was die Auferstehung an sich ist, liegt außerhalb des Kreises<lb/>
der geschichtlichen Untersuchung. Die geschichtliche Betrachtung hat sich nur<lb/>
daran zu halten, daß für den Glauben der Jünger die Auferstehung Jesu<lb/>
zur festesten und unumstößlichen Gewißheit geworden ist." Das Wort klingt<lb/>
Paradox und ist mehrfach angegriffen oder mißdeutet worden, und doch ist</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0319] der Combination wiederherzustellen, was das Gedächtniß-der Geschichte nun einmal verloren hat; sie entspringen vielmehr aus dem tiefen Bedürfniß unse¬ rer Zeit, endlich einmal eine menschliche Persönlichkeit an die Stelle eines unbegriffenen und unbegreiflichen Doppelwesens zu setzen. Aber nur daß man nicht wieder verwische, was geschichtliche Kenntniß ist und was immer nur das Gebiet der Hypothese bleiben wird. Es wäre ein Rückfall, wenn man die Grenzlinien wieder verrücken wollte, welche der schärfste Kritiker auf diesem Felde wohlbemessen abgesteckt hat. Strauß ist am größten in der Selbstbeschränkung die er sich auferlegt. Kein Bearbeiter ist anscheinend so skeptisch wie er und doch gewinnt man eben bei ihm ein Gefühl der Sicher¬ heit wie anders nirgendwo; es mögen nicht wenige Leser sein, denen, so oft wieder ein neues Leben Jesu erscheint, das Strauß'sche im Werthe steigt. Noch immer geht das, was wir vom Leben unsres Religionsstifters wissen, auf den Inhalt weniger Blätter zusammen. Und wenn jetzt das, was wir Beiwerk nennen, einen so großen Raum in der Biographie Jesu einzu¬ nehmen pflegt, so hat daran die Biographie im engeren Sinn nur einen sehr mittelbaren Gewinn. Sein Werth liegt aber nach einer andern Seite. Kann es die verloren gegangenen individuellen Züge des Christusbildes nicht wieder herstellen, so dient es dafür dazu, das Christenthum als geschichtliche Er¬ scheinung verständlicher zu machen. Es dient also, kann man sagen, einem höheren geschichtlichen Interesse. Geschichtlich betrachtet kommt weniger da¬ rauf an, welche eigenthümlichen Züge die Persönlichkeit Jesu trug, als viel¬ mehr daraus, wie sich der durchgreifende Weltumschwung vollzog, der sich an seinen Namen knüpft. Und man wird ja wohl sagen dürfen, daß weniger der historische Jesus diese Wirkungen ausgeübt hat als der ideale Christus, den sich frühzeitig die Gemeinde bildete. Es ist doch nicht zufällig, daß die größten Wirkungen nicht von demjenigen Kreise ausgingen, der durch per¬ sönliches Zusammenleben und Erinnerung am engsten mit dem Meister zu¬ sammenhing; denn hier kam man allem Anschein nach nicht über eine Modi¬ fikation des Judenthums hinaus. Welterneuernd wurde das Christenthum doch erst in seiner paulinischen Form, also durch den Apostel, für welchen der geschichtliche Jesus verschwand hinter dem dogmatischen Jesus. — Bekannt ist das Wort von Baur über die Auferstehung: „Was für die Geschichte die nothwendige Voraussetzung für alles folgende ist, ist nicht sowohl das Factische der Auferstehung Jesu selbst, als vielmehr der Glaube an dasselbe. Was die Auferstehung an sich ist, liegt außerhalb des Kreises der geschichtlichen Untersuchung. Die geschichtliche Betrachtung hat sich nur daran zu halten, daß für den Glauben der Jünger die Auferstehung Jesu zur festesten und unumstößlichen Gewißheit geworden ist." Das Wort klingt Paradox und ist mehrfach angegriffen oder mißdeutet worden, und doch ist

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/319
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/319>, abgerufen am 04.07.2024.