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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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mit denen der Volksmassen kaum Berührungspunkte haben, und so lange der
Einfluß der Bourgeoisie auf Bauern und Arbeiter nicht wieder hergestellt
ist. dürfte es auch mit der "symptomatischen" Bedeutung dessen, was im
Lvrps IsgiMtik verhandelt wird, nicht weit her sein. Wenn der Parla¬
mentarismus den arbeitenden Classen Steuerermäßigung und Verminderung
der Mililärlast in Auesicht stellte, könnte das anders werden. Das Volk
weiß aus den Reden der Favre und Thiers, so wenig es nach denselben im
Uebrigen fragt, doch sehr wohl herauszuhören, daß auch sie die innere Ruhe
Frankreichs von der auswärtigen Rolle dieses Staats abhängig machen und
kein Vertrauen in die Möglichkeit einer Versöhnung der verschiedenen Partei",
Berufs- und Standesinteressen setzen. Ist diese nicht möglich, so ist nach der
Logik des Ouvrier die gegenwärtige Gewaltherrschaft für ihn vortheilhafter,
als eine andere, zumal die des dritten Standes. Gelingt es der Regierung
gar, der gallikanische Richtung innerhalb der französischen Geistlichkeit die
Oberhand zu verschaffen und damit das Mißtraun der Bauern gegen die
reaktionären Gelüste der Ultramontanen ohne Störung der katholischen
Empfindungen des Volks zu beschwichtigen, so kann sie es noch lange in der
bisherigen Weise weiter treiben. Die große Zahl der Unzufriedenen entbehrt
des Banners, um das sie sich schaaren kann; sie hat keine Führer, keine
Schlagworte, die allgemein anklingen, keine festen Plätze, an welche sie sich
lehnen kann. Mag immerhin wahr sein, daß das Gouvernement politisch
banquerott ist, die Gesellschaft ist es auch. Eine gewaltsame Umwälzung
muß wenigstens Baarzahlungen in einer Münze versprechen können, welche
allenthalben Cours hat, eine bestehende Regierung kann sich mit künstlichen
Deckungen und Hilfsmitteln der politischen Wechselreiterei halten.

Unter so bewandten Umständen läßt sich behaupten, das die vielbespochenen
Reden und Abstimmungen im Corpus lögiswtik trotz des ungünstigen und beängsti"
gerben Eindrucks, den sie auf den Kaiser und dessen Getreue machten, an
der Situation nichts verändert haben, daß Deutschland mit denselben Factoren
rechnen muß, wie vor sechs Wochen. Die Fragen, auf welche es eigentlich
ankommt, hat die Opposition besser beantworten können als das Cabinet. die
Schaukelpolitik gegenüber Deutschlands ist trotz aller hervorquellenden Kritiken
als nothwendiges Uebel anerkannt, die zwischen Krieg und Frieden züng¬
elnde Waage nicht in entscheidender Weise bewegt worden. Für die eine
Wie die andere Entscheidung hat der Kaiser, wenn er sich aus die Volks¬
stimmung berufen will, gleich gewichtige Gründe anzuführen, keine von den
beiden Eventualitäten würde auf nachdrücklichen Widerstand der Nation
stoßen. Haben sich in den Reihen der Opposition Männer gefunden, welche
bei voller Klarheit über die Bedrohlichkeit der Finanzlag- für das Militärbud'
get stimmten, so haben wir ungeachtet ihres Friedensgeschreies keinen Grund


mit denen der Volksmassen kaum Berührungspunkte haben, und so lange der
Einfluß der Bourgeoisie auf Bauern und Arbeiter nicht wieder hergestellt
ist. dürfte es auch mit der „symptomatischen" Bedeutung dessen, was im
Lvrps IsgiMtik verhandelt wird, nicht weit her sein. Wenn der Parla¬
mentarismus den arbeitenden Classen Steuerermäßigung und Verminderung
der Mililärlast in Auesicht stellte, könnte das anders werden. Das Volk
weiß aus den Reden der Favre und Thiers, so wenig es nach denselben im
Uebrigen fragt, doch sehr wohl herauszuhören, daß auch sie die innere Ruhe
Frankreichs von der auswärtigen Rolle dieses Staats abhängig machen und
kein Vertrauen in die Möglichkeit einer Versöhnung der verschiedenen Partei«,
Berufs- und Standesinteressen setzen. Ist diese nicht möglich, so ist nach der
Logik des Ouvrier die gegenwärtige Gewaltherrschaft für ihn vortheilhafter,
als eine andere, zumal die des dritten Standes. Gelingt es der Regierung
gar, der gallikanische Richtung innerhalb der französischen Geistlichkeit die
Oberhand zu verschaffen und damit das Mißtraun der Bauern gegen die
reaktionären Gelüste der Ultramontanen ohne Störung der katholischen
Empfindungen des Volks zu beschwichtigen, so kann sie es noch lange in der
bisherigen Weise weiter treiben. Die große Zahl der Unzufriedenen entbehrt
des Banners, um das sie sich schaaren kann; sie hat keine Führer, keine
Schlagworte, die allgemein anklingen, keine festen Plätze, an welche sie sich
lehnen kann. Mag immerhin wahr sein, daß das Gouvernement politisch
banquerott ist, die Gesellschaft ist es auch. Eine gewaltsame Umwälzung
muß wenigstens Baarzahlungen in einer Münze versprechen können, welche
allenthalben Cours hat, eine bestehende Regierung kann sich mit künstlichen
Deckungen und Hilfsmitteln der politischen Wechselreiterei halten.

Unter so bewandten Umständen läßt sich behaupten, das die vielbespochenen
Reden und Abstimmungen im Corpus lögiswtik trotz des ungünstigen und beängsti«
gerben Eindrucks, den sie auf den Kaiser und dessen Getreue machten, an
der Situation nichts verändert haben, daß Deutschland mit denselben Factoren
rechnen muß, wie vor sechs Wochen. Die Fragen, auf welche es eigentlich
ankommt, hat die Opposition besser beantworten können als das Cabinet. die
Schaukelpolitik gegenüber Deutschlands ist trotz aller hervorquellenden Kritiken
als nothwendiges Uebel anerkannt, die zwischen Krieg und Frieden züng¬
elnde Waage nicht in entscheidender Weise bewegt worden. Für die eine
Wie die andere Entscheidung hat der Kaiser, wenn er sich aus die Volks¬
stimmung berufen will, gleich gewichtige Gründe anzuführen, keine von den
beiden Eventualitäten würde auf nachdrücklichen Widerstand der Nation
stoßen. Haben sich in den Reihen der Opposition Männer gefunden, welche
bei voller Klarheit über die Bedrohlichkeit der Finanzlag- für das Militärbud'
get stimmten, so haben wir ungeachtet ihres Friedensgeschreies keinen Grund


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/132>, abgerufen am 04.07.2024.