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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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sich mit den Trägern des napoleonischen Willens messen und ihre Meinung
über die brennenden Fragen innerer oder auswärtiger Politik abgeben.
Freilich hat die Todtenstille der ersten kaiserlichen Reactionsjahre wesentlich
dazu beigetragen, den Vorgängen von heute ein Relief zu geben; wurde doch
das bloße Vorhandensein einer Anzahl oppositioneller Kammermitglieder vor
einigen Jahren wie ein Mirakel angestaunt und davon abgesehen, daß die mehr¬
jährige Abwesenheit nicht gouvernementaler Volksvertreter eine Erscheinung
war, die nirgend in Europa, auch nicht in der preußischen Landrathskammer
eine Analogie hatte.

Fragt man heute nach den Gründen, aus welchen dem Verhalten der
Pariser Opposition eine Wichtigkeit zugeschrieben wird, die weder zu der
numerischen Schwäche noch zu der Zerfahrenheit derselben in Verhältniß
steht, noch dem wesentlich absolutistischen Charakter der französischen Ver¬
fassung entspricht, so wird gewöhnlich mit einem Hinweis darauf geantwortet,
daß die Reden und Abstimmungen dieser auch gegenwärtig ziemlich regel¬
mäßig überstimmten Oppositionsmänner Symptome für den Zustand und
die Stimmung der französischen Gesellschaft seien. Diese symptomatische Be¬
deutung in Abrede zu stellen, ist freilich nicht gut möglich. Es wird sich
aber fragen, ob Symptome für den Zustand eines kranken und zersetzen
Körpers ebenso charakteristisch und ebenso zuverlässig sind, wie sür das Be¬
finden eines gesunden oder bloß von einer acuten Krankheit befallenen
Organismus. Nicht selten besteht eine Krankheit gerade darin, daß der Zu.
sammenhang zwischen den äußeren und den inneren tiefer liegenden Organen
des Körpers so gestört ist, daß Rückschlüsse von den Lebensäußerungen der
einen auf den Zustand der anderen zu Trugschlüssen werden.

Für den gegenwärtigen Zustand der französischen Gesellschaft dürfte
dieser Vergleich in mehr wie einer Beziehung zutreffend sein. Die verschie¬
denen Schichten und Bestandtheile derselben entbehren jenes gesunden Zu¬
sammenhanges, der die Gruppirung und die Meinungsäußerungen innerhalb
der Kammer als Ausdruck der die Massen beherrschenden wirklichen und
continuirlichen Stimmungen erschcinenen ließe. Der Mittelstand, der in
den übrigen Staaten Europas mehr oder minder die ausschlaggebende
Classe bedeutet und dem die französischen Oppositionsmänner ihre Sitze zu
Vanken haben, ist im heutigen Frankreich der politisch bedeutungsloseste Stand.

Daß er weder Muth genug besitzt, um die Regierung übernehmen zu
wollen, noch Vertrauen genug genießt, um es zu können, hat sich gerade
während der letzten Bugetdebatte wiederholt und deutlich gezeigt- So lange
die Oppositionsredner die Finanzverwaltung und die auswärtige Politik der
Regierung kritisirten und die Unmöglichkeit einer Fortführung der bisherigen
Wirthschaft nachwiesen, haben sie eine Reihe unzweifelhafter Siege davon ge-


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sich mit den Trägern des napoleonischen Willens messen und ihre Meinung
über die brennenden Fragen innerer oder auswärtiger Politik abgeben.
Freilich hat die Todtenstille der ersten kaiserlichen Reactionsjahre wesentlich
dazu beigetragen, den Vorgängen von heute ein Relief zu geben; wurde doch
das bloße Vorhandensein einer Anzahl oppositioneller Kammermitglieder vor
einigen Jahren wie ein Mirakel angestaunt und davon abgesehen, daß die mehr¬
jährige Abwesenheit nicht gouvernementaler Volksvertreter eine Erscheinung
war, die nirgend in Europa, auch nicht in der preußischen Landrathskammer
eine Analogie hatte.

Fragt man heute nach den Gründen, aus welchen dem Verhalten der
Pariser Opposition eine Wichtigkeit zugeschrieben wird, die weder zu der
numerischen Schwäche noch zu der Zerfahrenheit derselben in Verhältniß
steht, noch dem wesentlich absolutistischen Charakter der französischen Ver¬
fassung entspricht, so wird gewöhnlich mit einem Hinweis darauf geantwortet,
daß die Reden und Abstimmungen dieser auch gegenwärtig ziemlich regel¬
mäßig überstimmten Oppositionsmänner Symptome für den Zustand und
die Stimmung der französischen Gesellschaft seien. Diese symptomatische Be¬
deutung in Abrede zu stellen, ist freilich nicht gut möglich. Es wird sich
aber fragen, ob Symptome für den Zustand eines kranken und zersetzen
Körpers ebenso charakteristisch und ebenso zuverlässig sind, wie sür das Be¬
finden eines gesunden oder bloß von einer acuten Krankheit befallenen
Organismus. Nicht selten besteht eine Krankheit gerade darin, daß der Zu.
sammenhang zwischen den äußeren und den inneren tiefer liegenden Organen
des Körpers so gestört ist, daß Rückschlüsse von den Lebensäußerungen der
einen auf den Zustand der anderen zu Trugschlüssen werden.

Für den gegenwärtigen Zustand der französischen Gesellschaft dürfte
dieser Vergleich in mehr wie einer Beziehung zutreffend sein. Die verschie¬
denen Schichten und Bestandtheile derselben entbehren jenes gesunden Zu¬
sammenhanges, der die Gruppirung und die Meinungsäußerungen innerhalb
der Kammer als Ausdruck der die Massen beherrschenden wirklichen und
continuirlichen Stimmungen erschcinenen ließe. Der Mittelstand, der in
den übrigen Staaten Europas mehr oder minder die ausschlaggebende
Classe bedeutet und dem die französischen Oppositionsmänner ihre Sitze zu
Vanken haben, ist im heutigen Frankreich der politisch bedeutungsloseste Stand.

Daß er weder Muth genug besitzt, um die Regierung übernehmen zu
wollen, noch Vertrauen genug genießt, um es zu können, hat sich gerade
während der letzten Bugetdebatte wiederholt und deutlich gezeigt- So lange
die Oppositionsredner die Finanzverwaltung und die auswärtige Politik der
Regierung kritisirten und die Unmöglichkeit einer Fortführung der bisherigen
Wirthschaft nachwiesen, haben sie eine Reihe unzweifelhafter Siege davon ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/129>, abgerufen am 30.06.2024.