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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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was die methodische Sprachforschung anziehen muß. Denn es ist eine An¬
nahme, die sich durch sich selbst vertritt, daß ihre Verfertiger durchweg un-
bewußt dem Grundsatz huldigen: schreib wie Du sprichst. Die nordische Litera¬
tursprache ist aber im eminenten Sinne, mehr wie die meisten anderen euro¬
päischen Volkssprachen ihrer Zeit. z. B. mehr wie das italienische vor Dante,
das provenzalische des 11., das altfranzösische des 12. Jahrhunderts und
mindestens ebenso sehr wie das Deutsche des 13. Jahrhunderts, nur Bücher¬
oder Gelehrten-Sprache d. h. eine solche, die aus der Sprache des gemeinen
Lebens sich isolirt hat und über oft in bedenklicher Adlerhöhe über ihr schwebt.

Sehr viele Erscheinungen der heutigen nordischen Sprachen -- allen¬
falls das neuere isländische ausgenommen, das als Schriftsprache nichts
weiter als die directe Fortsetzung der älteren ist -- lassen sich aus den
geschriebenen Denkmälern wenigstens nicht in ihrem Werdeprocesse anschauen.
Was sonst von den Volksmundarten erhalten ist. ist wie überall im Mittel¬
alter, unglaublich wenig. Hier würden nun diese steinernen, metallenen und
hölzernen Sprachzeugen einzutreten haben, die neben ihrer Authenticität und
Durchsichtigkeit auch meist noch den Vortheil der genannten Alters- und
Heimathsbestimmung haben. Freilich sind nicht alle nordischen Landschaften
gleich günstig damit bedacht; in einigen, wie im südlichen Norwegen und
gewissen Theilen des schwedischen Landes der Gothen, ist das Land förmlich
damit übersäet, in anderen, z. B. im mittleren Schweden, in Jütland und den
dänischen Inseln, sind sie seltener, aber doch auch noch immer vorhanden. Würde
deutsche Gründlichkeit und exacte Methode sich des Gegenstandes annehmen,
so wäre ein schöner Gewinn in sicherer Aussicht. Aber eigentlich haben
wir näher liegendes und besseres zu thun. Die Geschichte unserer Dialecte und
damit eine sehr wichtige Seite der geschichtlichen Erkenntniß unserer Sprache
läßt noch sehr viel Lücken auszufüllen, für die wir uns leider umsonst nach
Material umsehen, das nur annähernd so brauchbar wäre wie das nor¬
dische. Bis diese gewaltige Arbeit gethan ist, mögen die Herren in Kopen¬
hagen und Christiania. allenfalls auch in Lund und Upsala sehen, wie weit sie
es selbst bringen. Da es in Deutschland niemals an halb gut- oder schwach-
müthigem, halb querköpfigen Protectoren jeder fremden Albernheit und An¬
maßung gefehlt hat und fehlen wird, besonders dann, wenn sich dieselben
direct gegen die Ehre der deutschen Nation kehren, so sind wir überzeugt, daß
solche schülerhafte Experimente wie so viele andere auf diesem Gebiete, wenn
sie nur dänisch oder isländisch geschrieben sind, eine sehr schonende, womöglich
gar warm anerkennende Aufnahme, respective Lobpreisung zu erwarten
haben. --

Soweit scheint das Studium der Runen durch keine spitzeren Dornen und
Haken unangenehm gemacht, als sie auf jedem verwandten Felde des Wissens


was die methodische Sprachforschung anziehen muß. Denn es ist eine An¬
nahme, die sich durch sich selbst vertritt, daß ihre Verfertiger durchweg un-
bewußt dem Grundsatz huldigen: schreib wie Du sprichst. Die nordische Litera¬
tursprache ist aber im eminenten Sinne, mehr wie die meisten anderen euro¬
päischen Volkssprachen ihrer Zeit. z. B. mehr wie das italienische vor Dante,
das provenzalische des 11., das altfranzösische des 12. Jahrhunderts und
mindestens ebenso sehr wie das Deutsche des 13. Jahrhunderts, nur Bücher¬
oder Gelehrten-Sprache d. h. eine solche, die aus der Sprache des gemeinen
Lebens sich isolirt hat und über oft in bedenklicher Adlerhöhe über ihr schwebt.

Sehr viele Erscheinungen der heutigen nordischen Sprachen — allen¬
falls das neuere isländische ausgenommen, das als Schriftsprache nichts
weiter als die directe Fortsetzung der älteren ist — lassen sich aus den
geschriebenen Denkmälern wenigstens nicht in ihrem Werdeprocesse anschauen.
Was sonst von den Volksmundarten erhalten ist. ist wie überall im Mittel¬
alter, unglaublich wenig. Hier würden nun diese steinernen, metallenen und
hölzernen Sprachzeugen einzutreten haben, die neben ihrer Authenticität und
Durchsichtigkeit auch meist noch den Vortheil der genannten Alters- und
Heimathsbestimmung haben. Freilich sind nicht alle nordischen Landschaften
gleich günstig damit bedacht; in einigen, wie im südlichen Norwegen und
gewissen Theilen des schwedischen Landes der Gothen, ist das Land förmlich
damit übersäet, in anderen, z. B. im mittleren Schweden, in Jütland und den
dänischen Inseln, sind sie seltener, aber doch auch noch immer vorhanden. Würde
deutsche Gründlichkeit und exacte Methode sich des Gegenstandes annehmen,
so wäre ein schöner Gewinn in sicherer Aussicht. Aber eigentlich haben
wir näher liegendes und besseres zu thun. Die Geschichte unserer Dialecte und
damit eine sehr wichtige Seite der geschichtlichen Erkenntniß unserer Sprache
läßt noch sehr viel Lücken auszufüllen, für die wir uns leider umsonst nach
Material umsehen, das nur annähernd so brauchbar wäre wie das nor¬
dische. Bis diese gewaltige Arbeit gethan ist, mögen die Herren in Kopen¬
hagen und Christiania. allenfalls auch in Lund und Upsala sehen, wie weit sie
es selbst bringen. Da es in Deutschland niemals an halb gut- oder schwach-
müthigem, halb querköpfigen Protectoren jeder fremden Albernheit und An¬
maßung gefehlt hat und fehlen wird, besonders dann, wenn sich dieselben
direct gegen die Ehre der deutschen Nation kehren, so sind wir überzeugt, daß
solche schülerhafte Experimente wie so viele andere auf diesem Gebiete, wenn
sie nur dänisch oder isländisch geschrieben sind, eine sehr schonende, womöglich
gar warm anerkennende Aufnahme, respective Lobpreisung zu erwarten
haben. —

Soweit scheint das Studium der Runen durch keine spitzeren Dornen und
Haken unangenehm gemacht, als sie auf jedem verwandten Felde des Wissens


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[0101] was die methodische Sprachforschung anziehen muß. Denn es ist eine An¬ nahme, die sich durch sich selbst vertritt, daß ihre Verfertiger durchweg un- bewußt dem Grundsatz huldigen: schreib wie Du sprichst. Die nordische Litera¬ tursprache ist aber im eminenten Sinne, mehr wie die meisten anderen euro¬ päischen Volkssprachen ihrer Zeit. z. B. mehr wie das italienische vor Dante, das provenzalische des 11., das altfranzösische des 12. Jahrhunderts und mindestens ebenso sehr wie das Deutsche des 13. Jahrhunderts, nur Bücher¬ oder Gelehrten-Sprache d. h. eine solche, die aus der Sprache des gemeinen Lebens sich isolirt hat und über oft in bedenklicher Adlerhöhe über ihr schwebt. Sehr viele Erscheinungen der heutigen nordischen Sprachen — allen¬ falls das neuere isländische ausgenommen, das als Schriftsprache nichts weiter als die directe Fortsetzung der älteren ist — lassen sich aus den geschriebenen Denkmälern wenigstens nicht in ihrem Werdeprocesse anschauen. Was sonst von den Volksmundarten erhalten ist. ist wie überall im Mittel¬ alter, unglaublich wenig. Hier würden nun diese steinernen, metallenen und hölzernen Sprachzeugen einzutreten haben, die neben ihrer Authenticität und Durchsichtigkeit auch meist noch den Vortheil der genannten Alters- und Heimathsbestimmung haben. Freilich sind nicht alle nordischen Landschaften gleich günstig damit bedacht; in einigen, wie im südlichen Norwegen und gewissen Theilen des schwedischen Landes der Gothen, ist das Land förmlich damit übersäet, in anderen, z. B. im mittleren Schweden, in Jütland und den dänischen Inseln, sind sie seltener, aber doch auch noch immer vorhanden. Würde deutsche Gründlichkeit und exacte Methode sich des Gegenstandes annehmen, so wäre ein schöner Gewinn in sicherer Aussicht. Aber eigentlich haben wir näher liegendes und besseres zu thun. Die Geschichte unserer Dialecte und damit eine sehr wichtige Seite der geschichtlichen Erkenntniß unserer Sprache läßt noch sehr viel Lücken auszufüllen, für die wir uns leider umsonst nach Material umsehen, das nur annähernd so brauchbar wäre wie das nor¬ dische. Bis diese gewaltige Arbeit gethan ist, mögen die Herren in Kopen¬ hagen und Christiania. allenfalls auch in Lund und Upsala sehen, wie weit sie es selbst bringen. Da es in Deutschland niemals an halb gut- oder schwach- müthigem, halb querköpfigen Protectoren jeder fremden Albernheit und An¬ maßung gefehlt hat und fehlen wird, besonders dann, wenn sich dieselben direct gegen die Ehre der deutschen Nation kehren, so sind wir überzeugt, daß solche schülerhafte Experimente wie so viele andere auf diesem Gebiete, wenn sie nur dänisch oder isländisch geschrieben sind, eine sehr schonende, womöglich gar warm anerkennende Aufnahme, respective Lobpreisung zu erwarten haben. — Soweit scheint das Studium der Runen durch keine spitzeren Dornen und Haken unangenehm gemacht, als sie auf jedem verwandten Felde des Wissens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/101>, abgerufen am 02.07.2024.