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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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ihn diesmal in die achte Classe, wo er bejahrte Mitschüler fand, die zum
Theil die Furcht vor den Soldaten in die Schule getrieben hatte; einer
mühte sich dort schon vier Jahr lang vergeblich ab, das Lesen zu lernen.
Rasch überwand er diese und die folgenden Classen, und als er die fünfte
erreicht hatte, war ihm eine große Hilfe bereit durch die Aufnahme ins
Haus der Brüder des guten Willens. Zwar hatte es ihm an Unterstützung
in der wohlhabenden und wohlthätigen Stadt nicht gefehlt, namentlich hatten
sich ein Canonicus von Zütphen und eine mildthätige reiche Frau seiner
angenommen. Es that auch noth, denn fast unausgesetzt ward er von schwe¬
ren Krankheiten mancherlei Art heimgesucht, die ihn am Arbeiten hinderten
und seinen Muth auf harte Proben stellten. Doch auch in der Krankheit
sollte er Gottes Finger erkennen. Schon war er, wie viele, so verzagt ge¬
worden, daß er fortzugehen beschlossen und den Tag der Abreise festgesetzt
hatte, als er am Abend vorher von einem Fußübel befallen wurde, das ihn
zurückhielt. Und wie er fo dalag, erhielt er die Nachricht von seiner heiß
ersehnten Versetzung in die vierte Classe, die seine Zuversicht belebte und ihm
neue Kraft gab. daß fortan kein Zweifel an der Fortsetzung seiner Studien
in ihm mehr aufkam. Den kräftigsten Rückhalt gewährte ihm dabei das
Fraterhaus dewvon Gerhard Graefe am Ende des vierzehnten Jahrhun-
derts gestifteten Brüderschaft des gemeinsamen Lebens. Diese Genossenschaft,
welche, ohne durch eigentliches geistliches Gelübde sich zu binden, zu dem
Zweck zusammentrat, durch Predigt und Unterricht das geistige und sittliche
Leben des Volks zu heben und zu fördern, und jede darauf gerichtete Thätig¬
keit, wie Abschreiben und Buchbinder, durch innern wie äußern Beistand zu
unterstützen, beweist in ihrer Ausbreitung und Verzweigung über ganz Nord¬
deutschland, wo sie mit außerordentlichen Mitteln ausgerüstet eine große und
bedeutende Wirksamkeit ausübte, wie tief das Bedürfniß geistiger Bildung
im Volk empfunden und gefaßt wurde, und wie man von vornherein bestrebt
war, in unscheinbarer Thätigkeit in der Schule für die Volkserziehung eine
feste Grundlage zu gewinnen. Sie allein hat es möglich gemacht, daß die huma¬
nistischen Studien, nachdem sie in Italien und Frankreich nach einer glänzenden
Blüthezeit rasch abgewelkt waren, in Deutschland nicht blos eine Nachblüthe
hervorrufen, sondern Früchte zeitigen konnten, die hoffentlich ein unveräußer¬
liches Erbe unserer Kunst, Literatur und Bildung bleiben werden. -- Die
reichen Stiftungen der Brüderschaft in Deventer gaben in mehreren wohl
eingerichteten Häusern zahlreichen Schülern Wohnung, Nahrung und Pflege
und sonst jegliche Förderung bei ihren Studien. Sie nahmen sie aber erst
auf, wenn sie bis zur fünften Classe vorgerückt waren, um eine Bürgschaft
zu haben, daß sie wirklich bei den Studien aushalten würden. Hier fand
nun auch Johannes Aufnahme, der, nachdem er ein Jahr unter Magister


ihn diesmal in die achte Classe, wo er bejahrte Mitschüler fand, die zum
Theil die Furcht vor den Soldaten in die Schule getrieben hatte; einer
mühte sich dort schon vier Jahr lang vergeblich ab, das Lesen zu lernen.
Rasch überwand er diese und die folgenden Classen, und als er die fünfte
erreicht hatte, war ihm eine große Hilfe bereit durch die Aufnahme ins
Haus der Brüder des guten Willens. Zwar hatte es ihm an Unterstützung
in der wohlhabenden und wohlthätigen Stadt nicht gefehlt, namentlich hatten
sich ein Canonicus von Zütphen und eine mildthätige reiche Frau seiner
angenommen. Es that auch noth, denn fast unausgesetzt ward er von schwe¬
ren Krankheiten mancherlei Art heimgesucht, die ihn am Arbeiten hinderten
und seinen Muth auf harte Proben stellten. Doch auch in der Krankheit
sollte er Gottes Finger erkennen. Schon war er, wie viele, so verzagt ge¬
worden, daß er fortzugehen beschlossen und den Tag der Abreise festgesetzt
hatte, als er am Abend vorher von einem Fußübel befallen wurde, das ihn
zurückhielt. Und wie er fo dalag, erhielt er die Nachricht von seiner heiß
ersehnten Versetzung in die vierte Classe, die seine Zuversicht belebte und ihm
neue Kraft gab. daß fortan kein Zweifel an der Fortsetzung seiner Studien
in ihm mehr aufkam. Den kräftigsten Rückhalt gewährte ihm dabei das
Fraterhaus dewvon Gerhard Graefe am Ende des vierzehnten Jahrhun-
derts gestifteten Brüderschaft des gemeinsamen Lebens. Diese Genossenschaft,
welche, ohne durch eigentliches geistliches Gelübde sich zu binden, zu dem
Zweck zusammentrat, durch Predigt und Unterricht das geistige und sittliche
Leben des Volks zu heben und zu fördern, und jede darauf gerichtete Thätig¬
keit, wie Abschreiben und Buchbinder, durch innern wie äußern Beistand zu
unterstützen, beweist in ihrer Ausbreitung und Verzweigung über ganz Nord¬
deutschland, wo sie mit außerordentlichen Mitteln ausgerüstet eine große und
bedeutende Wirksamkeit ausübte, wie tief das Bedürfniß geistiger Bildung
im Volk empfunden und gefaßt wurde, und wie man von vornherein bestrebt
war, in unscheinbarer Thätigkeit in der Schule für die Volkserziehung eine
feste Grundlage zu gewinnen. Sie allein hat es möglich gemacht, daß die huma¬
nistischen Studien, nachdem sie in Italien und Frankreich nach einer glänzenden
Blüthezeit rasch abgewelkt waren, in Deutschland nicht blos eine Nachblüthe
hervorrufen, sondern Früchte zeitigen konnten, die hoffentlich ein unveräußer¬
liches Erbe unserer Kunst, Literatur und Bildung bleiben werden. — Die
reichen Stiftungen der Brüderschaft in Deventer gaben in mehreren wohl
eingerichteten Häusern zahlreichen Schülern Wohnung, Nahrung und Pflege
und sonst jegliche Förderung bei ihren Studien. Sie nahmen sie aber erst
auf, wenn sie bis zur fünften Classe vorgerückt waren, um eine Bürgschaft
zu haben, daß sie wirklich bei den Studien aushalten würden. Hier fand
nun auch Johannes Aufnahme, der, nachdem er ein Jahr unter Magister


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/502>, abgerufen am 01.07.2024.