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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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zuschweben. Wir bleiben bedächtig und gründlich, und wo wir dies nicht
sein können, werden wir confus.

Gründlich ist freilich selbst wieder ein vieldeutiger Begriff. Wir Deutsche
verstehen darunter, falls wir unsere eigenste Art und Anlage zur Geltung
kommen lassen, ein praktisches Wissen von einem Gegenstand, nicht ein
buntes Vielerlei von Notizen über denselben. Wir glauben zwar häusig,
daß unsere deutsche Gründlichkeit mit Viel- oder Alleswisser identisch sei, aber,
wenn auch Deutschland wahre Ungeheuer von Polyhistoren erzeugt hat, so
war dies nur eine vorübergehende Entwickelungskrankheit, noch dazu in einer
Zeit, in der der Kern des deutschen Wissens tiefer als zu irgend einer an¬
dern unter fremdem Schutt und Gerümpel vergraben lag. Im Gegentheil
liegt dem deutschen Volksgeiste oft weniger, als es uns nützlich und förder¬
lich ist, an der Kenntniß eines Gegenstandes, als an der Erkenntniß. Jeden¬
falls kann er sich Kenntniß nur als Folge von Erkenntniß denken und in
der That auch nur so zu eigen machen. Anderwärts ist der Weg umgekehrt,
oder vielmehr die bloße Kenntniß genügt, und die Erkenntniß wird als über¬
flüssige Dreingabe behandelt.

Auf das Gebiet des Staates und de" Politik übertragen bezeugt dieser
unvertilgbare Zug des deutschen Wissens, daß wir, um über seine hand¬
greiflichen Erscheinungsformen in der Wirklichkeit unserer Tage urtheilen und
demgemäß eine praktische Position zu ihnen nehmen zu können -- denn das
Urtheilen muß bei uns immer der Praxis vorhergehen -- wissen müssen, wie
das alles zu dem geworden ist, was es jetzt vorstellt. Die Geschichte, und
zwar die genetische Geschichte des deutschen Staates, ist für uns nicht blos
ein theoretisches Fach, das zur Zierde und Bildung des Geistes sehr nützlich
sich erweist, sondern eine unerläßliche Vorbedingung, um an dem Staat
der Gegenwart den lebhaften und kräftigen Antheil zu nehmen, zu welchem
uns alles hindrängt.

Gerade hier hat aber unsere Wissenschaft oder haben ihre Vertreter so
viel versäumt und gerade deshalb erregt das Buch, dessen Titel wir ange¬
führt haben, unsere besondere Theilnahme. Denn es ist ein wohlgelungener
Versuch einer'genetischen Geschichte des deutschen Staates und der Ideen,
aus denen er sich aufgebaut hat. Insofern darf es auch mit Recht als das erste
seiner Art bezeichnet werden, denn unsere bisherigen Staats- und Neichsge-
geschichten haben zwar häufig eminente gelehrte Verdienste, aber sie stellen
sich von vornherein in die engumschlossene Sphäre der Zunftgelehrsamkeit
oder, wenn man an diesem Ausdruck Anstoß nimmt, der -specifisch juridischen
Bildung. Sie gehen alle von der Voraussetzung aus, daß niemand außer
einem systematisch geschulten Juristen befähigt, und was noch weniger für die
Gegenwart passen will, berechtigt sei, von dem Dinge, Staat genannt, etwas


zuschweben. Wir bleiben bedächtig und gründlich, und wo wir dies nicht
sein können, werden wir confus.

Gründlich ist freilich selbst wieder ein vieldeutiger Begriff. Wir Deutsche
verstehen darunter, falls wir unsere eigenste Art und Anlage zur Geltung
kommen lassen, ein praktisches Wissen von einem Gegenstand, nicht ein
buntes Vielerlei von Notizen über denselben. Wir glauben zwar häusig,
daß unsere deutsche Gründlichkeit mit Viel- oder Alleswisser identisch sei, aber,
wenn auch Deutschland wahre Ungeheuer von Polyhistoren erzeugt hat, so
war dies nur eine vorübergehende Entwickelungskrankheit, noch dazu in einer
Zeit, in der der Kern des deutschen Wissens tiefer als zu irgend einer an¬
dern unter fremdem Schutt und Gerümpel vergraben lag. Im Gegentheil
liegt dem deutschen Volksgeiste oft weniger, als es uns nützlich und förder¬
lich ist, an der Kenntniß eines Gegenstandes, als an der Erkenntniß. Jeden¬
falls kann er sich Kenntniß nur als Folge von Erkenntniß denken und in
der That auch nur so zu eigen machen. Anderwärts ist der Weg umgekehrt,
oder vielmehr die bloße Kenntniß genügt, und die Erkenntniß wird als über¬
flüssige Dreingabe behandelt.

Auf das Gebiet des Staates und de« Politik übertragen bezeugt dieser
unvertilgbare Zug des deutschen Wissens, daß wir, um über seine hand¬
greiflichen Erscheinungsformen in der Wirklichkeit unserer Tage urtheilen und
demgemäß eine praktische Position zu ihnen nehmen zu können — denn das
Urtheilen muß bei uns immer der Praxis vorhergehen — wissen müssen, wie
das alles zu dem geworden ist, was es jetzt vorstellt. Die Geschichte, und
zwar die genetische Geschichte des deutschen Staates, ist für uns nicht blos
ein theoretisches Fach, das zur Zierde und Bildung des Geistes sehr nützlich
sich erweist, sondern eine unerläßliche Vorbedingung, um an dem Staat
der Gegenwart den lebhaften und kräftigen Antheil zu nehmen, zu welchem
uns alles hindrängt.

Gerade hier hat aber unsere Wissenschaft oder haben ihre Vertreter so
viel versäumt und gerade deshalb erregt das Buch, dessen Titel wir ange¬
führt haben, unsere besondere Theilnahme. Denn es ist ein wohlgelungener
Versuch einer'genetischen Geschichte des deutschen Staates und der Ideen,
aus denen er sich aufgebaut hat. Insofern darf es auch mit Recht als das erste
seiner Art bezeichnet werden, denn unsere bisherigen Staats- und Neichsge-
geschichten haben zwar häufig eminente gelehrte Verdienste, aber sie stellen
sich von vornherein in die engumschlossene Sphäre der Zunftgelehrsamkeit
oder, wenn man an diesem Ausdruck Anstoß nimmt, der -specifisch juridischen
Bildung. Sie gehen alle von der Voraussetzung aus, daß niemand außer
einem systematisch geschulten Juristen befähigt, und was noch weniger für die
Gegenwart passen will, berechtigt sei, von dem Dinge, Staat genannt, etwas


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/46>, abgerufen am 22.07.2024.