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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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langten. Die conservative Partei in der Schweiz begann die bekannte Flücht-
lingshatz. Das Journal wurde unterdrückt, auch Mathy vor den Unter¬
suchungsrichter gefordert und ausgewiesen.

Aber er hatte Freunde unter den liberalen Schweizern gewonnen, ihre
Verwendung wirkte ihm bei einzelnen Lokalregierungen stillen Aufenthalt
aus. Für ihn selbst wurde diese Zeit der Unsicherheit und eines harten
Ringens mit dem Leben zugleich die hohe Schule seiner politischen Bildung.
Hier lernte er Charakter, Wissen und Wollen Vieler kennen, welche sich be¬
rufen glaubten, die Leiden der kranken Zeit zu heilen; gegenüber den Phrasen,
abgeschmackten Verschwörungsgedanken und den verzweifelten Plänen vieler
Flüchtlinge sah er mit Freude die tüchtige maßvolle Kraft seiner freundlichen
Schweizer, welche fest in ihren Gemeinden standen und klug die örtlichen
Interessen für sich zu benutzen wußten, ein umsichtiges, nüchternes, praktisches
Wesen, und wo die Liberalen zur Negierung gekommen, straffes Regiment
und Verachtung aller enthusiastischen Planlosigkeit.

In seiner Verborgenheit arbeitete Mathy gern Nationalökonomisches,
schrieb in Rau's Zeitschrift und in das Staatslexicon von Rotteck und Welker.
Durch seine Schrift "Der Zehnt" erhielt er den Preis, welcher im Canton
Bern für Lösung dieser damals den Schweizern praktisch wichtigen Frage
ausgesetzt war. So wurde er allmählich mit den Menschen und Verhältnissen
der Schweiz vertraut; endlich ward ihm die Aussicht eröffnet, Vorsteher einer
neu einzurichtenden Bezirksschule zu Grenchen im Canton Solothurn zu werden,
wenn er vorher eine Staatsprüfung ablegen wolle. Das hatte besondere
Schwierigkeiten, denn er wurde von der reactionären Partei, welche in meh¬
reren Cantonen noch die Negierungsmaschine in Händen hatte, verfolgt.
So ging er heimlich nach Aarau, wo der Schulrath liberal war; dort im
Schulgebäude wurde er geprüft und hielt seine Probelection; so oft er die
Reihe der Schüler hinabging und an das Fenster kam, sah er die Polzei-
beamten draußen harren, um ihn zu ergreifen. Ihm machte es geringe Sorge,
aber der Schulrath selbst beschleunigte das Ende der Prüfung, Mathy erhielt
sein Zeugniß, wurde eine Hintertreppe hinab in einen bereitstehenden Wagen
geschafft und fuhr nach Luzern, wo er bei dem Bundesrath die Aufhebung
des alten Ausweisungsdecrets ohne Mühe erlangte. Drei Jahre war er in
gefährdeter Lage gewesen, muthig und hoffnungsvoll hatte er mit seiner Frau
die schwere Zeit ertragen, jetzt hatte er eine Heimath, einen abgegrenzten
Wirkungskreis, eine bescheidene, aber sichere Existenz. Mit einem Wohlgefühl,
das er lange nicht gekannt, begann er seine Lehrerthätigkeit.

Die Bezirksschule, welche er als erster Lehrer im Frühjahr 1838 ein¬
richtete, hatte den Zweck, fähigen Knaben, die den Elementarunterricht
der Landschule absolvirten, den Uebergang in anderen Lebensberuf zu


Grerizbotcn I. 1868, 47

langten. Die conservative Partei in der Schweiz begann die bekannte Flücht-
lingshatz. Das Journal wurde unterdrückt, auch Mathy vor den Unter¬
suchungsrichter gefordert und ausgewiesen.

Aber er hatte Freunde unter den liberalen Schweizern gewonnen, ihre
Verwendung wirkte ihm bei einzelnen Lokalregierungen stillen Aufenthalt
aus. Für ihn selbst wurde diese Zeit der Unsicherheit und eines harten
Ringens mit dem Leben zugleich die hohe Schule seiner politischen Bildung.
Hier lernte er Charakter, Wissen und Wollen Vieler kennen, welche sich be¬
rufen glaubten, die Leiden der kranken Zeit zu heilen; gegenüber den Phrasen,
abgeschmackten Verschwörungsgedanken und den verzweifelten Plänen vieler
Flüchtlinge sah er mit Freude die tüchtige maßvolle Kraft seiner freundlichen
Schweizer, welche fest in ihren Gemeinden standen und klug die örtlichen
Interessen für sich zu benutzen wußten, ein umsichtiges, nüchternes, praktisches
Wesen, und wo die Liberalen zur Negierung gekommen, straffes Regiment
und Verachtung aller enthusiastischen Planlosigkeit.

In seiner Verborgenheit arbeitete Mathy gern Nationalökonomisches,
schrieb in Rau's Zeitschrift und in das Staatslexicon von Rotteck und Welker.
Durch seine Schrift „Der Zehnt" erhielt er den Preis, welcher im Canton
Bern für Lösung dieser damals den Schweizern praktisch wichtigen Frage
ausgesetzt war. So wurde er allmählich mit den Menschen und Verhältnissen
der Schweiz vertraut; endlich ward ihm die Aussicht eröffnet, Vorsteher einer
neu einzurichtenden Bezirksschule zu Grenchen im Canton Solothurn zu werden,
wenn er vorher eine Staatsprüfung ablegen wolle. Das hatte besondere
Schwierigkeiten, denn er wurde von der reactionären Partei, welche in meh¬
reren Cantonen noch die Negierungsmaschine in Händen hatte, verfolgt.
So ging er heimlich nach Aarau, wo der Schulrath liberal war; dort im
Schulgebäude wurde er geprüft und hielt seine Probelection; so oft er die
Reihe der Schüler hinabging und an das Fenster kam, sah er die Polzei-
beamten draußen harren, um ihn zu ergreifen. Ihm machte es geringe Sorge,
aber der Schulrath selbst beschleunigte das Ende der Prüfung, Mathy erhielt
sein Zeugniß, wurde eine Hintertreppe hinab in einen bereitstehenden Wagen
geschafft und fuhr nach Luzern, wo er bei dem Bundesrath die Aufhebung
des alten Ausweisungsdecrets ohne Mühe erlangte. Drei Jahre war er in
gefährdeter Lage gewesen, muthig und hoffnungsvoll hatte er mit seiner Frau
die schwere Zeit ertragen, jetzt hatte er eine Heimath, einen abgegrenzten
Wirkungskreis, eine bescheidene, aber sichere Existenz. Mit einem Wohlgefühl,
das er lange nicht gekannt, begann er seine Lehrerthätigkeit.

Die Bezirksschule, welche er als erster Lehrer im Frühjahr 1838 ein¬
richtete, hatte den Zweck, fähigen Knaben, die den Elementarunterricht
der Landschule absolvirten, den Uebergang in anderen Lebensberuf zu


Grerizbotcn I. 1868, 47
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[0377] langten. Die conservative Partei in der Schweiz begann die bekannte Flücht- lingshatz. Das Journal wurde unterdrückt, auch Mathy vor den Unter¬ suchungsrichter gefordert und ausgewiesen. Aber er hatte Freunde unter den liberalen Schweizern gewonnen, ihre Verwendung wirkte ihm bei einzelnen Lokalregierungen stillen Aufenthalt aus. Für ihn selbst wurde diese Zeit der Unsicherheit und eines harten Ringens mit dem Leben zugleich die hohe Schule seiner politischen Bildung. Hier lernte er Charakter, Wissen und Wollen Vieler kennen, welche sich be¬ rufen glaubten, die Leiden der kranken Zeit zu heilen; gegenüber den Phrasen, abgeschmackten Verschwörungsgedanken und den verzweifelten Plänen vieler Flüchtlinge sah er mit Freude die tüchtige maßvolle Kraft seiner freundlichen Schweizer, welche fest in ihren Gemeinden standen und klug die örtlichen Interessen für sich zu benutzen wußten, ein umsichtiges, nüchternes, praktisches Wesen, und wo die Liberalen zur Negierung gekommen, straffes Regiment und Verachtung aller enthusiastischen Planlosigkeit. In seiner Verborgenheit arbeitete Mathy gern Nationalökonomisches, schrieb in Rau's Zeitschrift und in das Staatslexicon von Rotteck und Welker. Durch seine Schrift „Der Zehnt" erhielt er den Preis, welcher im Canton Bern für Lösung dieser damals den Schweizern praktisch wichtigen Frage ausgesetzt war. So wurde er allmählich mit den Menschen und Verhältnissen der Schweiz vertraut; endlich ward ihm die Aussicht eröffnet, Vorsteher einer neu einzurichtenden Bezirksschule zu Grenchen im Canton Solothurn zu werden, wenn er vorher eine Staatsprüfung ablegen wolle. Das hatte besondere Schwierigkeiten, denn er wurde von der reactionären Partei, welche in meh¬ reren Cantonen noch die Negierungsmaschine in Händen hatte, verfolgt. So ging er heimlich nach Aarau, wo der Schulrath liberal war; dort im Schulgebäude wurde er geprüft und hielt seine Probelection; so oft er die Reihe der Schüler hinabging und an das Fenster kam, sah er die Polzei- beamten draußen harren, um ihn zu ergreifen. Ihm machte es geringe Sorge, aber der Schulrath selbst beschleunigte das Ende der Prüfung, Mathy erhielt sein Zeugniß, wurde eine Hintertreppe hinab in einen bereitstehenden Wagen geschafft und fuhr nach Luzern, wo er bei dem Bundesrath die Aufhebung des alten Ausweisungsdecrets ohne Mühe erlangte. Drei Jahre war er in gefährdeter Lage gewesen, muthig und hoffnungsvoll hatte er mit seiner Frau die schwere Zeit ertragen, jetzt hatte er eine Heimath, einen abgegrenzten Wirkungskreis, eine bescheidene, aber sichere Existenz. Mit einem Wohlgefühl, das er lange nicht gekannt, begann er seine Lehrerthätigkeit. Die Bezirksschule, welche er als erster Lehrer im Frühjahr 1838 ein¬ richtete, hatte den Zweck, fähigen Knaben, die den Elementarunterricht der Landschule absolvirten, den Uebergang in anderen Lebensberuf zu Grerizbotcn I. 1868, 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/377>, abgerufen am 24.08.2024.