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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Charakter und die liberalen Interessen verbanden alle Unzufriedenen Europas
zu einer großen Familie. Wie den Regierungen russische, östreichische, fran¬
zösische Reaction als eine Stärkung des eignen Bestandes erschien, genau
ebenso war im deutschen Volk der Pole, der Italiener, der mißvergnügte
Franzose ein werther Bundesgenosse. Wie °die Regierungen durch Censur
und rohe Unterdrückungen des gedruckten Wortes die Aeußerungen jeder
Unzufriedenheit ersticken wollten, gerade ebenso begrüßte die Volkspartei jede
geheime Druckschrift, jedes entschlossene Wort mit Freude trotz dem Bedenklichen
des Inhalts. Und wie den Regierungen das verächtlichste Individuum,
wenn es sich als gesinnungstreues und scrupelloses Werkzeug brauchen ließ,
willkommen war, gerade so ertrugen auch die Besten in der Opposition Fa¬
natismus, Selbstsucht, hohle Eitelkeit. Gewaltthätigkeit und unehrliche Mittel
ihrer Mitglieder. Aus völligem Umsturz aller Verhältnisse hatten sich die
neuen Verhältnisse gebildet, jeder der Lebenden wußte, wie willkürlich und
zufällig die Regierungen waren, die der wiener Frieden hinterlassen hatte;
zahllose Rechte und historische Ansprüche waren unter den Heerwagen
der nächsten blutigen Vergangenheit zu Staub zermalmt, die Regierenden
mit ihren Beamten forderten jetzt vergeblich Ehrfurcht vor den Gesetzen,
welche sie in beständiger Sorge um die eigene Dauer, zuweilen mit bösem Ge¬
wissen gaben, auch die Opposition proclamirte und wollte gesetzlichen Fort¬
schritt, aber kein scharfblickender konnte sich bergen, daß auf diesem Wege
kein Ende abzusehen war und der besonnene Patriot unterschied sich von
dem Verschwörer zuweilen nur dadurch, daß er an den Erfolg gewaltthätiger
Mittel nicht glauben konnte.

So war es auf dem ganzen Festlande Europas vom Tajo bis zum
Dniepr. Aber die Deutschen hatten gleich den Italienern noch ein besonderes
Politisches Leiden. Sie waren als Deutsche aufgerufen worden zur Vertreibung
der Fremdherrschaft, hatten Blut und die letzte Habe dafür eingesetzt und die
Folge aller großen Gefühle, leidenschaftlicher Anstrengungen und feierlicher
Versprechen war für einen großen Theil der Deutschen öde Kleinstaaterei
geworden. Der eigene Kleinstaat erschien dem Patrioten damals wie eine
dürftige Jnterimswohnung. Seine besten Pflichten und heißesten Wünsche
gehörten einem Ideal, welches keinen stärkern Feind hatte, als die bestehenden
Staatsgewalten. Wohl jeder dachte sich die Real-isirung dieses edlen Traum¬
bildes anders; sicher erschien dem Süddeutschen, daß es nicht Oestreich, nicht
Preußen, nicht deutscher Bund werden sollte. Doch eines erkannten die
Besten: nur ein Heranziehen des Volkes zum politischen Leben, Entwickelung
seines Wohlstandes und seiner praktischen Tüchtigkeit konnten zu einer Bes¬
serung führen.

Es ist sehr lehrreich, an einzelnen Menschenleben zu prüfen,' wie allmählich


Charakter und die liberalen Interessen verbanden alle Unzufriedenen Europas
zu einer großen Familie. Wie den Regierungen russische, östreichische, fran¬
zösische Reaction als eine Stärkung des eignen Bestandes erschien, genau
ebenso war im deutschen Volk der Pole, der Italiener, der mißvergnügte
Franzose ein werther Bundesgenosse. Wie °die Regierungen durch Censur
und rohe Unterdrückungen des gedruckten Wortes die Aeußerungen jeder
Unzufriedenheit ersticken wollten, gerade ebenso begrüßte die Volkspartei jede
geheime Druckschrift, jedes entschlossene Wort mit Freude trotz dem Bedenklichen
des Inhalts. Und wie den Regierungen das verächtlichste Individuum,
wenn es sich als gesinnungstreues und scrupelloses Werkzeug brauchen ließ,
willkommen war, gerade so ertrugen auch die Besten in der Opposition Fa¬
natismus, Selbstsucht, hohle Eitelkeit. Gewaltthätigkeit und unehrliche Mittel
ihrer Mitglieder. Aus völligem Umsturz aller Verhältnisse hatten sich die
neuen Verhältnisse gebildet, jeder der Lebenden wußte, wie willkürlich und
zufällig die Regierungen waren, die der wiener Frieden hinterlassen hatte;
zahllose Rechte und historische Ansprüche waren unter den Heerwagen
der nächsten blutigen Vergangenheit zu Staub zermalmt, die Regierenden
mit ihren Beamten forderten jetzt vergeblich Ehrfurcht vor den Gesetzen,
welche sie in beständiger Sorge um die eigene Dauer, zuweilen mit bösem Ge¬
wissen gaben, auch die Opposition proclamirte und wollte gesetzlichen Fort¬
schritt, aber kein scharfblickender konnte sich bergen, daß auf diesem Wege
kein Ende abzusehen war und der besonnene Patriot unterschied sich von
dem Verschwörer zuweilen nur dadurch, daß er an den Erfolg gewaltthätiger
Mittel nicht glauben konnte.

So war es auf dem ganzen Festlande Europas vom Tajo bis zum
Dniepr. Aber die Deutschen hatten gleich den Italienern noch ein besonderes
Politisches Leiden. Sie waren als Deutsche aufgerufen worden zur Vertreibung
der Fremdherrschaft, hatten Blut und die letzte Habe dafür eingesetzt und die
Folge aller großen Gefühle, leidenschaftlicher Anstrengungen und feierlicher
Versprechen war für einen großen Theil der Deutschen öde Kleinstaaterei
geworden. Der eigene Kleinstaat erschien dem Patrioten damals wie eine
dürftige Jnterimswohnung. Seine besten Pflichten und heißesten Wünsche
gehörten einem Ideal, welches keinen stärkern Feind hatte, als die bestehenden
Staatsgewalten. Wohl jeder dachte sich die Real-isirung dieses edlen Traum¬
bildes anders; sicher erschien dem Süddeutschen, daß es nicht Oestreich, nicht
Preußen, nicht deutscher Bund werden sollte. Doch eines erkannten die
Besten: nur ein Heranziehen des Volkes zum politischen Leben, Entwickelung
seines Wohlstandes und seiner praktischen Tüchtigkeit konnten zu einer Bes¬
serung führen.

Es ist sehr lehrreich, an einzelnen Menschenleben zu prüfen,' wie allmählich


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[0373] Charakter und die liberalen Interessen verbanden alle Unzufriedenen Europas zu einer großen Familie. Wie den Regierungen russische, östreichische, fran¬ zösische Reaction als eine Stärkung des eignen Bestandes erschien, genau ebenso war im deutschen Volk der Pole, der Italiener, der mißvergnügte Franzose ein werther Bundesgenosse. Wie °die Regierungen durch Censur und rohe Unterdrückungen des gedruckten Wortes die Aeußerungen jeder Unzufriedenheit ersticken wollten, gerade ebenso begrüßte die Volkspartei jede geheime Druckschrift, jedes entschlossene Wort mit Freude trotz dem Bedenklichen des Inhalts. Und wie den Regierungen das verächtlichste Individuum, wenn es sich als gesinnungstreues und scrupelloses Werkzeug brauchen ließ, willkommen war, gerade so ertrugen auch die Besten in der Opposition Fa¬ natismus, Selbstsucht, hohle Eitelkeit. Gewaltthätigkeit und unehrliche Mittel ihrer Mitglieder. Aus völligem Umsturz aller Verhältnisse hatten sich die neuen Verhältnisse gebildet, jeder der Lebenden wußte, wie willkürlich und zufällig die Regierungen waren, die der wiener Frieden hinterlassen hatte; zahllose Rechte und historische Ansprüche waren unter den Heerwagen der nächsten blutigen Vergangenheit zu Staub zermalmt, die Regierenden mit ihren Beamten forderten jetzt vergeblich Ehrfurcht vor den Gesetzen, welche sie in beständiger Sorge um die eigene Dauer, zuweilen mit bösem Ge¬ wissen gaben, auch die Opposition proclamirte und wollte gesetzlichen Fort¬ schritt, aber kein scharfblickender konnte sich bergen, daß auf diesem Wege kein Ende abzusehen war und der besonnene Patriot unterschied sich von dem Verschwörer zuweilen nur dadurch, daß er an den Erfolg gewaltthätiger Mittel nicht glauben konnte. So war es auf dem ganzen Festlande Europas vom Tajo bis zum Dniepr. Aber die Deutschen hatten gleich den Italienern noch ein besonderes Politisches Leiden. Sie waren als Deutsche aufgerufen worden zur Vertreibung der Fremdherrschaft, hatten Blut und die letzte Habe dafür eingesetzt und die Folge aller großen Gefühle, leidenschaftlicher Anstrengungen und feierlicher Versprechen war für einen großen Theil der Deutschen öde Kleinstaaterei geworden. Der eigene Kleinstaat erschien dem Patrioten damals wie eine dürftige Jnterimswohnung. Seine besten Pflichten und heißesten Wünsche gehörten einem Ideal, welches keinen stärkern Feind hatte, als die bestehenden Staatsgewalten. Wohl jeder dachte sich die Real-isirung dieses edlen Traum¬ bildes anders; sicher erschien dem Süddeutschen, daß es nicht Oestreich, nicht Preußen, nicht deutscher Bund werden sollte. Doch eines erkannten die Besten: nur ein Heranziehen des Volkes zum politischen Leben, Entwickelung seines Wohlstandes und seiner praktischen Tüchtigkeit konnten zu einer Bes¬ serung führen. Es ist sehr lehrreich, an einzelnen Menschenleben zu prüfen,' wie allmählich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/373>, abgerufen am 24.08.2024.