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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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er keinen Revolver besitzt, Gedanken an die Endlichkeit alles menschlichen Da¬
seins und die Begehrlichkeit irdischer Güter ziemlich nahe, -- aber er ist er¬
müdet und dämmert allmälig ein. Beim Anbruch der Nacht wird er durch
Kanonendonner und Trommelschlag plötzlich geweckt: die Citadelle donnert
ihren Abendgruß in die öde Finsterniß hinaus und der Zapfenstreich verkündet,
daß abends nach 9 Uhr Ruhe die erste Bürgerpflicht ist. Frühmorgens sind
es-die Glocken der fünfkuppeligen griechischen Festungskathedrale, die den
trägen Schläfer wecken und das furchtsame Geläute der katholischen und der
evangelischen Kirche klingend übertönen. -- So sieht es in den besseren
Gasthäusern der großen Stadt Dünaburg aus -- die einzige menschenwürdige
Wohnung soll das boarämg-KouZiz sein, welches die englischen Beamten der
riga-dünaburgschen Eisenbahn für sich und ihre deutschen Collegen erbaut
und mit brittischen Comfort ausgestattet haben.

Auf dem Platze, der heute von der Citadelle eingenommen wird, war
im Jahre 1277 die Dünaburg des Ordens der deutschen Herren angelegt
worden, nach welcher der Ort seinen Namen hat. Ihre Spuren sind längst
ebenso vom Erdboden verschwunden, wie die deutschen Bürgersitze, die unter
dem Schutz der Feste gebaut worden waren, ihrer Bestimmung, den östlichsten
Vorposten baltisch-deutscher Cultur abzugeben, aber freilich nur drei Jahr¬
hunderte lang entsprechen konnten. 1376 von dem Zaren Iwan Wassiljewitsch
mit Sturm genommen und vollständig zerstört, wurde Dünaburg von den
Polen neu aufgeführt, um dann im Laufe eines Jahrhunderts zweimal von
den Schweden (1625 und 1653), einmal von den Russen nach hartnäckiger
Vertheidigung erstürmt zu werden. Als die Generale Katharinens 1772 von
dem alten Sitze der Ordensvögte dauernden Besitz nahmen, hielten sie einen
vollständigen Neubau nothwendig, um an diesem Platz einen Stützpunkt für
die russische Regierung zu gewinnen. Damals wurde jener, aus einem ein¬
zigen 360 Faden langen Gebäude bestehende Brückenkopf mit seinen überaus
starken Mauern angelegt, den Oudinot im Juli 1812 zwei Tage lang vergeblich
beschoß; vierzehn Tage später fiel die Festung in die Hände Macdonalds,
der bekanntlich das Armeecorps commandirte, dem auch die von Uork geführten
Preußen eingereiht waren. -- Gegenwärtig dient die Citadelle zur Auf¬
bewahrung zahlreicher, meist mit politischen Verbrechen behafteter Gefangener,
die von einer starken Besatzung bewacht werden. Tausende todesmuthiger
Polen haben hier den Wahnsinn gebüßt, mit welchem sie sich im Februar
1863 gegen die russische Macht erhoben, da diese eben im Begriff war, mit
dem Königreich Polen Frieden zu schließen; von Dünaburg aus wurden sie
in das Innere des Reichs oder in die schweigsamen Ebenen jenseit des Ural
abgeführt, das alte polnische Livland aber blieb das russische Gouvernement,
zu welchem es schon im Jahre 1772 gemacht worden war.


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er keinen Revolver besitzt, Gedanken an die Endlichkeit alles menschlichen Da¬
seins und die Begehrlichkeit irdischer Güter ziemlich nahe, — aber er ist er¬
müdet und dämmert allmälig ein. Beim Anbruch der Nacht wird er durch
Kanonendonner und Trommelschlag plötzlich geweckt: die Citadelle donnert
ihren Abendgruß in die öde Finsterniß hinaus und der Zapfenstreich verkündet,
daß abends nach 9 Uhr Ruhe die erste Bürgerpflicht ist. Frühmorgens sind
es-die Glocken der fünfkuppeligen griechischen Festungskathedrale, die den
trägen Schläfer wecken und das furchtsame Geläute der katholischen und der
evangelischen Kirche klingend übertönen. — So sieht es in den besseren
Gasthäusern der großen Stadt Dünaburg aus — die einzige menschenwürdige
Wohnung soll das boarämg-KouZiz sein, welches die englischen Beamten der
riga-dünaburgschen Eisenbahn für sich und ihre deutschen Collegen erbaut
und mit brittischen Comfort ausgestattet haben.

Auf dem Platze, der heute von der Citadelle eingenommen wird, war
im Jahre 1277 die Dünaburg des Ordens der deutschen Herren angelegt
worden, nach welcher der Ort seinen Namen hat. Ihre Spuren sind längst
ebenso vom Erdboden verschwunden, wie die deutschen Bürgersitze, die unter
dem Schutz der Feste gebaut worden waren, ihrer Bestimmung, den östlichsten
Vorposten baltisch-deutscher Cultur abzugeben, aber freilich nur drei Jahr¬
hunderte lang entsprechen konnten. 1376 von dem Zaren Iwan Wassiljewitsch
mit Sturm genommen und vollständig zerstört, wurde Dünaburg von den
Polen neu aufgeführt, um dann im Laufe eines Jahrhunderts zweimal von
den Schweden (1625 und 1653), einmal von den Russen nach hartnäckiger
Vertheidigung erstürmt zu werden. Als die Generale Katharinens 1772 von
dem alten Sitze der Ordensvögte dauernden Besitz nahmen, hielten sie einen
vollständigen Neubau nothwendig, um an diesem Platz einen Stützpunkt für
die russische Regierung zu gewinnen. Damals wurde jener, aus einem ein¬
zigen 360 Faden langen Gebäude bestehende Brückenkopf mit seinen überaus
starken Mauern angelegt, den Oudinot im Juli 1812 zwei Tage lang vergeblich
beschoß; vierzehn Tage später fiel die Festung in die Hände Macdonalds,
der bekanntlich das Armeecorps commandirte, dem auch die von Uork geführten
Preußen eingereiht waren. — Gegenwärtig dient die Citadelle zur Auf¬
bewahrung zahlreicher, meist mit politischen Verbrechen behafteter Gefangener,
die von einer starken Besatzung bewacht werden. Tausende todesmuthiger
Polen haben hier den Wahnsinn gebüßt, mit welchem sie sich im Februar
1863 gegen die russische Macht erhoben, da diese eben im Begriff war, mit
dem Königreich Polen Frieden zu schließen; von Dünaburg aus wurden sie
in das Innere des Reichs oder in die schweigsamen Ebenen jenseit des Ural
abgeführt, das alte polnische Livland aber blieb das russische Gouvernement,
zu welchem es schon im Jahre 1772 gemacht worden war.


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[0299] er keinen Revolver besitzt, Gedanken an die Endlichkeit alles menschlichen Da¬ seins und die Begehrlichkeit irdischer Güter ziemlich nahe, — aber er ist er¬ müdet und dämmert allmälig ein. Beim Anbruch der Nacht wird er durch Kanonendonner und Trommelschlag plötzlich geweckt: die Citadelle donnert ihren Abendgruß in die öde Finsterniß hinaus und der Zapfenstreich verkündet, daß abends nach 9 Uhr Ruhe die erste Bürgerpflicht ist. Frühmorgens sind es-die Glocken der fünfkuppeligen griechischen Festungskathedrale, die den trägen Schläfer wecken und das furchtsame Geläute der katholischen und der evangelischen Kirche klingend übertönen. — So sieht es in den besseren Gasthäusern der großen Stadt Dünaburg aus — die einzige menschenwürdige Wohnung soll das boarämg-KouZiz sein, welches die englischen Beamten der riga-dünaburgschen Eisenbahn für sich und ihre deutschen Collegen erbaut und mit brittischen Comfort ausgestattet haben. Auf dem Platze, der heute von der Citadelle eingenommen wird, war im Jahre 1277 die Dünaburg des Ordens der deutschen Herren angelegt worden, nach welcher der Ort seinen Namen hat. Ihre Spuren sind längst ebenso vom Erdboden verschwunden, wie die deutschen Bürgersitze, die unter dem Schutz der Feste gebaut worden waren, ihrer Bestimmung, den östlichsten Vorposten baltisch-deutscher Cultur abzugeben, aber freilich nur drei Jahr¬ hunderte lang entsprechen konnten. 1376 von dem Zaren Iwan Wassiljewitsch mit Sturm genommen und vollständig zerstört, wurde Dünaburg von den Polen neu aufgeführt, um dann im Laufe eines Jahrhunderts zweimal von den Schweden (1625 und 1653), einmal von den Russen nach hartnäckiger Vertheidigung erstürmt zu werden. Als die Generale Katharinens 1772 von dem alten Sitze der Ordensvögte dauernden Besitz nahmen, hielten sie einen vollständigen Neubau nothwendig, um an diesem Platz einen Stützpunkt für die russische Regierung zu gewinnen. Damals wurde jener, aus einem ein¬ zigen 360 Faden langen Gebäude bestehende Brückenkopf mit seinen überaus starken Mauern angelegt, den Oudinot im Juli 1812 zwei Tage lang vergeblich beschoß; vierzehn Tage später fiel die Festung in die Hände Macdonalds, der bekanntlich das Armeecorps commandirte, dem auch die von Uork geführten Preußen eingereiht waren. — Gegenwärtig dient die Citadelle zur Auf¬ bewahrung zahlreicher, meist mit politischen Verbrechen behafteter Gefangener, die von einer starken Besatzung bewacht werden. Tausende todesmuthiger Polen haben hier den Wahnsinn gebüßt, mit welchem sie sich im Februar 1863 gegen die russische Macht erhoben, da diese eben im Begriff war, mit dem Königreich Polen Frieden zu schließen; von Dünaburg aus wurden sie in das Innere des Reichs oder in die schweigsamen Ebenen jenseit des Ural abgeführt, das alte polnische Livland aber blieb das russische Gouvernement, zu welchem es schon im Jahre 1772 gemacht worden war. 37*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/299>, abgerufen am 24.08.2024.