Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

nächst ist. von einer Gefangenschaft der Dame darin gar" nicht die Rede, die
Canzone ist sogar dem Raimon selbst in den Schlußzeilen zugeeignet, was
ein äußerlich noch nicht getrübtes Verhältniß voraussetzt. Endlich mahnt der
Dichter in einer Strophe die Dame, d"ß nicht hohe Abkunft und Reichthum
sie verhindern solle, ihm ihre Gunst zu schenken, womit die Bezeichnung des
Guillen als eines vornehmen Burgherrn nicht wohl in Einklang zu bringen ist.

Vollends unerklärlich bleibt aber in der kürzern Erzählung, wie Raimon
aus der angeführten Stelle Verdacht geschöpft haben soll, seine Gemahlin sei
die Angebetete, was er ja übrigens nach derselben Version schon längst wußte
und wofür die Dame bereits im Thurme gefangen saß. -- Wenn hier sich
Widersprüche jeder Art erheben, so stimmen dagegen alle Umstände mit
schlagender Genauigkeit zu der ausführlicheren Bearbeitung. Hier ist das
Verhältniß der drei Betheiligten scheinbar das beste, Guillems Stellung als
dienender Ritter rechtfertigt die Aeußerung in Bezug auf den hohen Rang
der Dame, und daß eine so deutliche Beziehung auf die ihm gespickte Co-
mödie, wie sie in jenen verfänglichen Zeilen des Gedichtes enthalten ist, das
kaum beschwichtigte Mißtrauen Naimons zur schrecklichen Gewißheit steigert,
kann unter den geschilderten Umständen durchaus nicht Wunder nehmen.
Dennoch halte ich die kürzere Lebensnachricht für die ältere und treuere.
Einmal schon wegen der größeren Kürze und Einfachheit; offenbar ist es
viel wahrscheinlicher anzunehmen, daß ein späterer Schriftsteller vielleicht
gerade an der Hand der Canzone die Erzählung des berühmten Guillen mit
eigener Phantasie ausschmückte, als daß man umgekehrt eine so amüsante,
so ganz im Geiste der Zeit gehaltene Episode, wie den Besuch auf dem
Schlosse Lied ohne Veranlassung sollte weggelassen haben. Die Wiedersprüche,
in welche die kürzere Version mit der chronologischen Bestimmung der Can¬
zone geräth, dürfen dabei nicht allzuhoch in Anschlag gebracht werden. Die
alten Lebensnachrichten lieben es, direkte Anlässe sür die Entstehung der Ge¬
dichte anzugeben, ohne es dabei mit der Uebereinstimmung aller Umstände
sehr genau zu nehmen. Unerklärt bliebe immerhin die Anspielung aus den
hohern Rang der Geliebten, aber auch diese ist nicht so beschaffen, daß ein
bescheidener Liebender, wie Guillen vorzugsweise erscheint, der ja übri¬
gens auch als selbständiger Burgherr dem großen Grafen Raimon an Glanz
und Reichthum nachstehen konnte, sie nicht hätte machen sollen. Der kürzere
Bericht hat offenbar auch dem Boceacio vorgelegen, welcher in der 39. No¬
velle des Decamerone den Vorfall mit blos veränderten Namen erzählt.
Auch bei ihm sind die beiden Ritter, Messer Guiglielmo Rossiglione und
Messer Guiglielmo Guartastagno, wie er sie nennt, zwei gleichgestellte Edle,
auch bei ihm ist die Episode auf dem Schlosse Lied. welche er sich, wäre sie
ihm bekannt gewesen, gewiß nicht hätte entgehen lassen, nicht zu finden.


33*

nächst ist. von einer Gefangenschaft der Dame darin gar" nicht die Rede, die
Canzone ist sogar dem Raimon selbst in den Schlußzeilen zugeeignet, was
ein äußerlich noch nicht getrübtes Verhältniß voraussetzt. Endlich mahnt der
Dichter in einer Strophe die Dame, dȧ nicht hohe Abkunft und Reichthum
sie verhindern solle, ihm ihre Gunst zu schenken, womit die Bezeichnung des
Guillen als eines vornehmen Burgherrn nicht wohl in Einklang zu bringen ist.

Vollends unerklärlich bleibt aber in der kürzern Erzählung, wie Raimon
aus der angeführten Stelle Verdacht geschöpft haben soll, seine Gemahlin sei
die Angebetete, was er ja übrigens nach derselben Version schon längst wußte
und wofür die Dame bereits im Thurme gefangen saß. — Wenn hier sich
Widersprüche jeder Art erheben, so stimmen dagegen alle Umstände mit
schlagender Genauigkeit zu der ausführlicheren Bearbeitung. Hier ist das
Verhältniß der drei Betheiligten scheinbar das beste, Guillems Stellung als
dienender Ritter rechtfertigt die Aeußerung in Bezug auf den hohen Rang
der Dame, und daß eine so deutliche Beziehung auf die ihm gespickte Co-
mödie, wie sie in jenen verfänglichen Zeilen des Gedichtes enthalten ist, das
kaum beschwichtigte Mißtrauen Naimons zur schrecklichen Gewißheit steigert,
kann unter den geschilderten Umständen durchaus nicht Wunder nehmen.
Dennoch halte ich die kürzere Lebensnachricht für die ältere und treuere.
Einmal schon wegen der größeren Kürze und Einfachheit; offenbar ist es
viel wahrscheinlicher anzunehmen, daß ein späterer Schriftsteller vielleicht
gerade an der Hand der Canzone die Erzählung des berühmten Guillen mit
eigener Phantasie ausschmückte, als daß man umgekehrt eine so amüsante,
so ganz im Geiste der Zeit gehaltene Episode, wie den Besuch auf dem
Schlosse Lied ohne Veranlassung sollte weggelassen haben. Die Wiedersprüche,
in welche die kürzere Version mit der chronologischen Bestimmung der Can¬
zone geräth, dürfen dabei nicht allzuhoch in Anschlag gebracht werden. Die
alten Lebensnachrichten lieben es, direkte Anlässe sür die Entstehung der Ge¬
dichte anzugeben, ohne es dabei mit der Uebereinstimmung aller Umstände
sehr genau zu nehmen. Unerklärt bliebe immerhin die Anspielung aus den
hohern Rang der Geliebten, aber auch diese ist nicht so beschaffen, daß ein
bescheidener Liebender, wie Guillen vorzugsweise erscheint, der ja übri¬
gens auch als selbständiger Burgherr dem großen Grafen Raimon an Glanz
und Reichthum nachstehen konnte, sie nicht hätte machen sollen. Der kürzere
Bericht hat offenbar auch dem Boceacio vorgelegen, welcher in der 39. No¬
velle des Decamerone den Vorfall mit blos veränderten Namen erzählt.
Auch bei ihm sind die beiden Ritter, Messer Guiglielmo Rossiglione und
Messer Guiglielmo Guartastagno, wie er sie nennt, zwei gleichgestellte Edle,
auch bei ihm ist die Episode auf dem Schlosse Lied. welche er sich, wäre sie
ihm bekannt gewesen, gewiß nicht hätte entgehen lassen, nicht zu finden.


33*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0267" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117273"/>
          <p xml:id="ID_703" prev="#ID_702"> nächst ist. von einer Gefangenschaft der Dame darin gar" nicht die Rede, die<lb/>
Canzone ist sogar dem Raimon selbst in den Schlußzeilen zugeeignet, was<lb/>
ein äußerlich noch nicht getrübtes Verhältniß voraussetzt. Endlich mahnt der<lb/>
Dichter in einer Strophe die Dame, dȧ nicht hohe Abkunft und Reichthum<lb/>
sie verhindern solle, ihm ihre Gunst zu schenken, womit die Bezeichnung des<lb/>
Guillen als eines vornehmen Burgherrn nicht wohl in Einklang zu bringen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_704"> Vollends unerklärlich bleibt aber in der kürzern Erzählung, wie Raimon<lb/>
aus der angeführten Stelle Verdacht geschöpft haben soll, seine Gemahlin sei<lb/>
die Angebetete, was er ja übrigens nach derselben Version schon längst wußte<lb/>
und wofür die Dame bereits im Thurme gefangen saß. &#x2014; Wenn hier sich<lb/>
Widersprüche jeder Art erheben, so stimmen dagegen alle Umstände mit<lb/>
schlagender Genauigkeit zu der ausführlicheren Bearbeitung. Hier ist das<lb/>
Verhältniß der drei Betheiligten scheinbar das beste, Guillems Stellung als<lb/>
dienender Ritter rechtfertigt die Aeußerung in Bezug auf den hohen Rang<lb/>
der Dame, und daß eine so deutliche Beziehung auf die ihm gespickte Co-<lb/>
mödie, wie sie in jenen verfänglichen Zeilen des Gedichtes enthalten ist, das<lb/>
kaum beschwichtigte Mißtrauen Naimons zur schrecklichen Gewißheit steigert,<lb/>
kann unter den geschilderten Umständen durchaus nicht Wunder nehmen.<lb/>
Dennoch halte ich die kürzere Lebensnachricht für die ältere und treuere.<lb/>
Einmal schon wegen der größeren Kürze und Einfachheit; offenbar ist es<lb/>
viel wahrscheinlicher anzunehmen, daß ein späterer Schriftsteller vielleicht<lb/>
gerade an der Hand der Canzone die Erzählung des berühmten Guillen mit<lb/>
eigener Phantasie ausschmückte, als daß man umgekehrt eine so amüsante,<lb/>
so ganz im Geiste der Zeit gehaltene Episode, wie den Besuch auf dem<lb/>
Schlosse Lied ohne Veranlassung sollte weggelassen haben. Die Wiedersprüche,<lb/>
in welche die kürzere Version mit der chronologischen Bestimmung der Can¬<lb/>
zone geräth, dürfen dabei nicht allzuhoch in Anschlag gebracht werden. Die<lb/>
alten Lebensnachrichten lieben es, direkte Anlässe sür die Entstehung der Ge¬<lb/>
dichte anzugeben, ohne es dabei mit der Uebereinstimmung aller Umstände<lb/>
sehr genau zu nehmen. Unerklärt bliebe immerhin die Anspielung aus den<lb/>
hohern Rang der Geliebten, aber auch diese ist nicht so beschaffen, daß ein<lb/>
bescheidener Liebender, wie Guillen vorzugsweise erscheint, der ja übri¬<lb/>
gens auch als selbständiger Burgherr dem großen Grafen Raimon an Glanz<lb/>
und Reichthum nachstehen konnte, sie nicht hätte machen sollen. Der kürzere<lb/>
Bericht hat offenbar auch dem Boceacio vorgelegen, welcher in der 39. No¬<lb/>
velle des Decamerone den Vorfall mit blos veränderten Namen erzählt.<lb/>
Auch bei ihm sind die beiden Ritter, Messer Guiglielmo Rossiglione und<lb/>
Messer Guiglielmo Guartastagno, wie er sie nennt, zwei gleichgestellte Edle,<lb/>
auch bei ihm ist die Episode auf dem Schlosse Lied. welche er sich, wäre sie<lb/>
ihm bekannt gewesen, gewiß nicht hätte entgehen lassen, nicht zu finden.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 33*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0267] nächst ist. von einer Gefangenschaft der Dame darin gar" nicht die Rede, die Canzone ist sogar dem Raimon selbst in den Schlußzeilen zugeeignet, was ein äußerlich noch nicht getrübtes Verhältniß voraussetzt. Endlich mahnt der Dichter in einer Strophe die Dame, d»ß nicht hohe Abkunft und Reichthum sie verhindern solle, ihm ihre Gunst zu schenken, womit die Bezeichnung des Guillen als eines vornehmen Burgherrn nicht wohl in Einklang zu bringen ist. Vollends unerklärlich bleibt aber in der kürzern Erzählung, wie Raimon aus der angeführten Stelle Verdacht geschöpft haben soll, seine Gemahlin sei die Angebetete, was er ja übrigens nach derselben Version schon längst wußte und wofür die Dame bereits im Thurme gefangen saß. — Wenn hier sich Widersprüche jeder Art erheben, so stimmen dagegen alle Umstände mit schlagender Genauigkeit zu der ausführlicheren Bearbeitung. Hier ist das Verhältniß der drei Betheiligten scheinbar das beste, Guillems Stellung als dienender Ritter rechtfertigt die Aeußerung in Bezug auf den hohen Rang der Dame, und daß eine so deutliche Beziehung auf die ihm gespickte Co- mödie, wie sie in jenen verfänglichen Zeilen des Gedichtes enthalten ist, das kaum beschwichtigte Mißtrauen Naimons zur schrecklichen Gewißheit steigert, kann unter den geschilderten Umständen durchaus nicht Wunder nehmen. Dennoch halte ich die kürzere Lebensnachricht für die ältere und treuere. Einmal schon wegen der größeren Kürze und Einfachheit; offenbar ist es viel wahrscheinlicher anzunehmen, daß ein späterer Schriftsteller vielleicht gerade an der Hand der Canzone die Erzählung des berühmten Guillen mit eigener Phantasie ausschmückte, als daß man umgekehrt eine so amüsante, so ganz im Geiste der Zeit gehaltene Episode, wie den Besuch auf dem Schlosse Lied ohne Veranlassung sollte weggelassen haben. Die Wiedersprüche, in welche die kürzere Version mit der chronologischen Bestimmung der Can¬ zone geräth, dürfen dabei nicht allzuhoch in Anschlag gebracht werden. Die alten Lebensnachrichten lieben es, direkte Anlässe sür die Entstehung der Ge¬ dichte anzugeben, ohne es dabei mit der Uebereinstimmung aller Umstände sehr genau zu nehmen. Unerklärt bliebe immerhin die Anspielung aus den hohern Rang der Geliebten, aber auch diese ist nicht so beschaffen, daß ein bescheidener Liebender, wie Guillen vorzugsweise erscheint, der ja übri¬ gens auch als selbständiger Burgherr dem großen Grafen Raimon an Glanz und Reichthum nachstehen konnte, sie nicht hätte machen sollen. Der kürzere Bericht hat offenbar auch dem Boceacio vorgelegen, welcher in der 39. No¬ velle des Decamerone den Vorfall mit blos veränderten Namen erzählt. Auch bei ihm sind die beiden Ritter, Messer Guiglielmo Rossiglione und Messer Guiglielmo Guartastagno, wie er sie nennt, zwei gleichgestellte Edle, auch bei ihm ist die Episode auf dem Schlosse Lied. welche er sich, wäre sie ihm bekannt gewesen, gewiß nicht hätte entgehen lassen, nicht zu finden. 33*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/267
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/267>, abgerufen am 24.08.2024.