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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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mung getragen worden ist. Wir reden nicht von den letzten Wochen, in denen
die Presse nur die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Partei wieder- "
spiegelte, sondern von dem Vorläufer der brennenden Frage von heute, der
Entscheidung über das hessische Provinzialvermögen, welche im August v. I.
zur Sprache kam und von den berliner Organen unserer Partei in beinahe
schneidendem Gegensatz zu den Anschauungen des größten Theils der national¬
liberalen Provinzialpresse beurtheilt wurde. Es lag nah genug, aus diesem
einen Umstände Schlüsse ernstester Art für die Zukunft der Partei zu ziehen,
welche für die Hauptträgerin der neuesten Aera preußisch-deutschen Staatslebens
gilt. Aber diese Schlüsse wurden nicht gezogen, die Meinungsverschiedenheit über
das hessische Provinzialvermögen wurde wie eine vereinzelte, an und für sich
bedeutungslose Angelegenheit bei Seite gesetzt und yuasi ro dens Zestg. zur
Tagesordnung übergegangen, der § 84 der preußischen Verfassung, die Frage
nach dem Modus der Behandlung des Budgets discutirt u. f. w. Freilich
ließ sichs nicht ganz vermeiden, daß die Berathung einzelner Budgetposten
die Reorganisationsfrage berührte und daß der Mangel einer prinzipiellen
Stellung zu derselben empfindlich zu Tage trat, sobald die leidigen Provi¬
sorien durch Definitiv" ersetzt werden sollten, die eigentliche Katastrophe
wurde aber doch hinausgeschoben und ist erst in den letzten Tagen, wenn
nicht zum Austrag, so doch zum Platzen gekommen.

Einer ziemlich weit verbreiteten Anschauung nach besteht die Aufgabe
der nationalliberalen Partei wesentlich darin, die deutsche Politik des Grafen
Bismarck zu unterstützen, das begonnene Einigungswerk seinem Abschluß ent¬
gegenzuführen. Für den Reichstag hat sich die Richtigkeit dieser Formulirung
bewährt; wie ist dieselbe auf den preußischen Landtag anzuwenden? Die con-
ventionelle Antwort lautet: durch möglichsten Ausbau der durch die Ver¬
fassung gebotenen freiheitlichen Institutionen ist Preußens Attractionskraft zu
erhöhen und die innere Politik dieses Staats mit der äußeren in Einklang
zu bringen. Wir wollen die Nichtigkeit dieser Sätze nicht in Frage stellen,
möchten aber bestreiten, daß dieselben die aufgeworfene Frage vollständig beant¬
worten. Ganz abgesehen davon, daß der Einfluß der liberalen Partei auf
ein siegreiches, bis dahin von einer zahlreichen conservativen Fraction unter¬
stütztes Ministerium so entschiedene Grenzen hat, daß z. B. die Entlassung
des Grafen zur Lippe eine Ueberraschung für alle Theile gewesen ist, es muß
bestritten werden, daß das Schlagwort "Entwickelung freiheitlicher Institutio¬
nen" bereits identisch sei mit der Erhöhung der preußischen Attractionskraft;
eine wesentliche Bedingung derselben wird es vielmehr sein, die Einverleibung
der neuerworbenen Provinzen in den Einheitsstaat ohne Störung des orga¬
nischen Lebens der ersteren und ohne Schwächung der Einheitlichkeit des letz¬
teren zu vollziehen, mit andern Worten, eine wirklich lebendige Assimilations-


mung getragen worden ist. Wir reden nicht von den letzten Wochen, in denen
die Presse nur die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Partei wieder- »
spiegelte, sondern von dem Vorläufer der brennenden Frage von heute, der
Entscheidung über das hessische Provinzialvermögen, welche im August v. I.
zur Sprache kam und von den berliner Organen unserer Partei in beinahe
schneidendem Gegensatz zu den Anschauungen des größten Theils der national¬
liberalen Provinzialpresse beurtheilt wurde. Es lag nah genug, aus diesem
einen Umstände Schlüsse ernstester Art für die Zukunft der Partei zu ziehen,
welche für die Hauptträgerin der neuesten Aera preußisch-deutschen Staatslebens
gilt. Aber diese Schlüsse wurden nicht gezogen, die Meinungsverschiedenheit über
das hessische Provinzialvermögen wurde wie eine vereinzelte, an und für sich
bedeutungslose Angelegenheit bei Seite gesetzt und yuasi ro dens Zestg. zur
Tagesordnung übergegangen, der § 84 der preußischen Verfassung, die Frage
nach dem Modus der Behandlung des Budgets discutirt u. f. w. Freilich
ließ sichs nicht ganz vermeiden, daß die Berathung einzelner Budgetposten
die Reorganisationsfrage berührte und daß der Mangel einer prinzipiellen
Stellung zu derselben empfindlich zu Tage trat, sobald die leidigen Provi¬
sorien durch Definitiv« ersetzt werden sollten, die eigentliche Katastrophe
wurde aber doch hinausgeschoben und ist erst in den letzten Tagen, wenn
nicht zum Austrag, so doch zum Platzen gekommen.

Einer ziemlich weit verbreiteten Anschauung nach besteht die Aufgabe
der nationalliberalen Partei wesentlich darin, die deutsche Politik des Grafen
Bismarck zu unterstützen, das begonnene Einigungswerk seinem Abschluß ent¬
gegenzuführen. Für den Reichstag hat sich die Richtigkeit dieser Formulirung
bewährt; wie ist dieselbe auf den preußischen Landtag anzuwenden? Die con-
ventionelle Antwort lautet: durch möglichsten Ausbau der durch die Ver¬
fassung gebotenen freiheitlichen Institutionen ist Preußens Attractionskraft zu
erhöhen und die innere Politik dieses Staats mit der äußeren in Einklang
zu bringen. Wir wollen die Nichtigkeit dieser Sätze nicht in Frage stellen,
möchten aber bestreiten, daß dieselben die aufgeworfene Frage vollständig beant¬
worten. Ganz abgesehen davon, daß der Einfluß der liberalen Partei auf
ein siegreiches, bis dahin von einer zahlreichen conservativen Fraction unter¬
stütztes Ministerium so entschiedene Grenzen hat, daß z. B. die Entlassung
des Grafen zur Lippe eine Ueberraschung für alle Theile gewesen ist, es muß
bestritten werden, daß das Schlagwort „Entwickelung freiheitlicher Institutio¬
nen" bereits identisch sei mit der Erhöhung der preußischen Attractionskraft;
eine wesentliche Bedingung derselben wird es vielmehr sein, die Einverleibung
der neuerworbenen Provinzen in den Einheitsstaat ohne Störung des orga¬
nischen Lebens der ersteren und ohne Schwächung der Einheitlichkeit des letz¬
teren zu vollziehen, mit andern Worten, eine wirklich lebendige Assimilations-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/252>, abgerufen am 24.08.2024.