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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Kind auf den Gütern einrücken würden und nun aus der Tasche des Guts¬
herrn erhalten werden sollten; und wenn sie auch einräumten, daß das Frei¬
zügigkeitsgesetz eine Aenderung der Gesetzgebung in der vorgeschlagenen
Richtung erfordere, so meinten sie doch, daß es dazu noch immer Zeit sein
würde, wenn die weitere Entwickelung der Bundesgesetzgebung dazu zwinge.
In letzterer Beziehung schlössen sich den Rittern auch die Bürgermeister
an. Der Ausführung, wonach zwischen der Erschwerung der Eheschließung
und der großen Zahl der wilden Ehen und der unehelichen Geburten ein
anerkannter Zusammenhang bestehe, wurde vom Landtage die Behauptung
entgegengestellt, "daß nach zweifellosen Ergebnissen der Bevölkerungsstatistik
in anderen deutschen Staaten.' z, B. Königreich Sachsen, welche die
beabsichtigten Erleichterungen der Eheschließung bereits eingeführt haben,
die beregten Mißstände in demselben oder doch in annähernd gleichem Maße
vorhanden sind", wodurch wenigstens so viel bewiesen werde, "daß die letz¬
teren in Mecklenburg keinenfalls vorwiegend auf den bestehenden Rechtszustand
wegen der Eheschließungen zurückgeführt werden können." Auf Grund dieser
Einwendungen wurde der Gesetzentwurf wegen Einführung von Trauscheinen
von beiden Ständen und der andere wegen Erwerbung der Ortsangehörig¬
keit durch fortgesetzten Aufenthalt von der Ritterschaft abgelehnt.

Die Regierung wurde durch diese Ablehnung sehr unsanft berührt und
sprach das in ihrem Rescript vom 21. December direct aus. Der Großherzog
verzichtet zwar bei der Kürze der Zeit darauf, durch eine erneuerte Darlegung
noch auf dem gegenwärtigen Landtage einer "den Bedürfnissen des Landes
entsprechenden" Auffassung Eingang zu verschaffen, hält aber die Nothwendig¬
keit der proponirten Gesetzgebung in vollem Maße aufrecht und behält sich
vor, auf diese wichtige Maßregel zurückzukommen.

Das in dieser Verhandlung hervortretende Zugeständnis? der Regierung,
daß in Mecklenburg "alte, schwer auf der Bevölkerung des Landes lastende,
allgemein anerkannte Uebel" zu beseitigen sind (dieser Ausdrücke bediente
sich das erwähnte Rescript), ist ein vollkommen neues. Bisher war die Re¬
gierung bemüht, die mecklenburgischen Staatseinrichrungen als unanfechtbar
und tadellos erscheinen zu lassen, und ihre Presse war gewohnt, alle, welche
an den glücklichen Zuständen des Landes zu zweifeln wagten, als "entartete
Söhne" oder als ein kleines Häuflein Unzufriedener darzustellen. Jetzt tritt
die Regierung selbst in die Reihen dieser "entarteten Söhne" und erhebt eine
harte Anklage gegen die Institutionen des Landes. Man begreift dabei nur
nicht, wie es hat geschehen können, daß sie diese Entdeckung nicht früher
gemacht hat und erst in dem Freizügigkeitsgesetz des norddeutschen Bundes
den Antrieb findet, an jene verderbensäenden Institutionen die bessernde Hand
zu legM. Noch weniger begreift man, wie sie die Besserung mit Ständen


Kind auf den Gütern einrücken würden und nun aus der Tasche des Guts¬
herrn erhalten werden sollten; und wenn sie auch einräumten, daß das Frei¬
zügigkeitsgesetz eine Aenderung der Gesetzgebung in der vorgeschlagenen
Richtung erfordere, so meinten sie doch, daß es dazu noch immer Zeit sein
würde, wenn die weitere Entwickelung der Bundesgesetzgebung dazu zwinge.
In letzterer Beziehung schlössen sich den Rittern auch die Bürgermeister
an. Der Ausführung, wonach zwischen der Erschwerung der Eheschließung
und der großen Zahl der wilden Ehen und der unehelichen Geburten ein
anerkannter Zusammenhang bestehe, wurde vom Landtage die Behauptung
entgegengestellt, „daß nach zweifellosen Ergebnissen der Bevölkerungsstatistik
in anderen deutschen Staaten.' z, B. Königreich Sachsen, welche die
beabsichtigten Erleichterungen der Eheschließung bereits eingeführt haben,
die beregten Mißstände in demselben oder doch in annähernd gleichem Maße
vorhanden sind", wodurch wenigstens so viel bewiesen werde, „daß die letz¬
teren in Mecklenburg keinenfalls vorwiegend auf den bestehenden Rechtszustand
wegen der Eheschließungen zurückgeführt werden können." Auf Grund dieser
Einwendungen wurde der Gesetzentwurf wegen Einführung von Trauscheinen
von beiden Ständen und der andere wegen Erwerbung der Ortsangehörig¬
keit durch fortgesetzten Aufenthalt von der Ritterschaft abgelehnt.

Die Regierung wurde durch diese Ablehnung sehr unsanft berührt und
sprach das in ihrem Rescript vom 21. December direct aus. Der Großherzog
verzichtet zwar bei der Kürze der Zeit darauf, durch eine erneuerte Darlegung
noch auf dem gegenwärtigen Landtage einer „den Bedürfnissen des Landes
entsprechenden" Auffassung Eingang zu verschaffen, hält aber die Nothwendig¬
keit der proponirten Gesetzgebung in vollem Maße aufrecht und behält sich
vor, auf diese wichtige Maßregel zurückzukommen.

Das in dieser Verhandlung hervortretende Zugeständnis? der Regierung,
daß in Mecklenburg „alte, schwer auf der Bevölkerung des Landes lastende,
allgemein anerkannte Uebel" zu beseitigen sind (dieser Ausdrücke bediente
sich das erwähnte Rescript), ist ein vollkommen neues. Bisher war die Re¬
gierung bemüht, die mecklenburgischen Staatseinrichrungen als unanfechtbar
und tadellos erscheinen zu lassen, und ihre Presse war gewohnt, alle, welche
an den glücklichen Zuständen des Landes zu zweifeln wagten, als „entartete
Söhne" oder als ein kleines Häuflein Unzufriedener darzustellen. Jetzt tritt
die Regierung selbst in die Reihen dieser „entarteten Söhne" und erhebt eine
harte Anklage gegen die Institutionen des Landes. Man begreift dabei nur
nicht, wie es hat geschehen können, daß sie diese Entdeckung nicht früher
gemacht hat und erst in dem Freizügigkeitsgesetz des norddeutschen Bundes
den Antrieb findet, an jene verderbensäenden Institutionen die bessernde Hand
zu legM. Noch weniger begreift man, wie sie die Besserung mit Ständen


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[0196] Kind auf den Gütern einrücken würden und nun aus der Tasche des Guts¬ herrn erhalten werden sollten; und wenn sie auch einräumten, daß das Frei¬ zügigkeitsgesetz eine Aenderung der Gesetzgebung in der vorgeschlagenen Richtung erfordere, so meinten sie doch, daß es dazu noch immer Zeit sein würde, wenn die weitere Entwickelung der Bundesgesetzgebung dazu zwinge. In letzterer Beziehung schlössen sich den Rittern auch die Bürgermeister an. Der Ausführung, wonach zwischen der Erschwerung der Eheschließung und der großen Zahl der wilden Ehen und der unehelichen Geburten ein anerkannter Zusammenhang bestehe, wurde vom Landtage die Behauptung entgegengestellt, „daß nach zweifellosen Ergebnissen der Bevölkerungsstatistik in anderen deutschen Staaten.' z, B. Königreich Sachsen, welche die beabsichtigten Erleichterungen der Eheschließung bereits eingeführt haben, die beregten Mißstände in demselben oder doch in annähernd gleichem Maße vorhanden sind", wodurch wenigstens so viel bewiesen werde, „daß die letz¬ teren in Mecklenburg keinenfalls vorwiegend auf den bestehenden Rechtszustand wegen der Eheschließungen zurückgeführt werden können." Auf Grund dieser Einwendungen wurde der Gesetzentwurf wegen Einführung von Trauscheinen von beiden Ständen und der andere wegen Erwerbung der Ortsangehörig¬ keit durch fortgesetzten Aufenthalt von der Ritterschaft abgelehnt. Die Regierung wurde durch diese Ablehnung sehr unsanft berührt und sprach das in ihrem Rescript vom 21. December direct aus. Der Großherzog verzichtet zwar bei der Kürze der Zeit darauf, durch eine erneuerte Darlegung noch auf dem gegenwärtigen Landtage einer „den Bedürfnissen des Landes entsprechenden" Auffassung Eingang zu verschaffen, hält aber die Nothwendig¬ keit der proponirten Gesetzgebung in vollem Maße aufrecht und behält sich vor, auf diese wichtige Maßregel zurückzukommen. Das in dieser Verhandlung hervortretende Zugeständnis? der Regierung, daß in Mecklenburg „alte, schwer auf der Bevölkerung des Landes lastende, allgemein anerkannte Uebel" zu beseitigen sind (dieser Ausdrücke bediente sich das erwähnte Rescript), ist ein vollkommen neues. Bisher war die Re¬ gierung bemüht, die mecklenburgischen Staatseinrichrungen als unanfechtbar und tadellos erscheinen zu lassen, und ihre Presse war gewohnt, alle, welche an den glücklichen Zuständen des Landes zu zweifeln wagten, als „entartete Söhne" oder als ein kleines Häuflein Unzufriedener darzustellen. Jetzt tritt die Regierung selbst in die Reihen dieser „entarteten Söhne" und erhebt eine harte Anklage gegen die Institutionen des Landes. Man begreift dabei nur nicht, wie es hat geschehen können, daß sie diese Entdeckung nicht früher gemacht hat und erst in dem Freizügigkeitsgesetz des norddeutschen Bundes den Antrieb findet, an jene verderbensäenden Institutionen die bessernde Hand zu legM. Noch weniger begreift man, wie sie die Besserung mit Ständen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/196>, abgerufen am 22.07.2024.