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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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wird, doch nimmermehr einer Partei beizulegen sein, deren geistige Arbeit
zum großen Theile darin aufgeht, die widerstreitenden Elemente in ihrer
Mitte zu beschwichtigen. Dieser Umstand nöthigte sie, zumal in der deut¬
schen Frage, zu der negativen Haltung, welche den Schein des Radikalis¬
mus an sich trägt und welche stets an die Zeit des Verfassungsconflictes
erinnert. Damals konnte es ziemlich gleichgiltig sein, ob ein Abgeordneter
anncxionistisch oder augustenburgisch dachte; wenn aber die deutsche Frage,
wenn die brennendsten Interessen der nationalen Existenz auf das Tapet
kommen, da gehört es zu den Merkmalen einer wirklichen Partei, daß alle
ihre Genossen an einem Strange ziehen. Daß dies bei der Fortschrittspartei
nicht der Fall ist, erklärt zum Theil auch den Widerspruch zwischen ihren
Populären Prätentionen einerseits und der Art ihrer parlamentarischen Thätig¬
keit andrerseits. In ihren Rundschreiben und ähnlichen derartigen Manife¬
stationen klagt sie über die Schlaffheit des Volkes bei den Wahlen; aber
wenn sie damit Recht hat, darf man dann einem Volke, welches angeblich
durch dreimaliges Wählen in einem Jahre schon ermüdet ist, auf die Dauer ein
negirendes und radicalisirendes politisches Verhalten zumuthen? -- Die Fort¬
schrittspartei hat die größere Anzahl ihrer Wahlkreise verloren, und zwar in
den alten Provinzen meistens an Konservative. Wie ungerecht ist es daher von
ihr, sich über die gemäßigt liberalen Wahlen der neuen Provinzen (welche
an unserem Verfassungsconflict nicht betheiligt waren und unmöglich geneigt
sein können, diese häßliche Erbschaft anzutreten), zu beschweren, durch welche
gerettet wird, was zu retten ist und was die Fortschrittspartei, wenn auf
sich allein angewiesen, jedenfalls verlieren würde. Viele ihrer Wahlsitze
wären vielleicht dem gemäßigten Liberalismus zu erhalten gewesen, hätte sie
es nicht meistentheils absichtlich und grundsätzlich auf die Entscheidung zwischen
den beiden Extremen ankommen lassen, -- gerade als ob sie vorzöge, ihre
Ansichten in der Minorität zu verkündigen, statt durch bescheidene Ver¬
mittelung praktische Resultate zu erzielen.

So lange sie selbst die Gesinnungsunterschiede mit päpstlicher Unfehlbar¬
keit ihren frühern Gefährten "ins Gewissen zuschieben" bemüht ist,
darf sie sich über solchen, vielleicht ungerechten, Verdacht kaum beschweren.
Aber mit Gefühlsausbrüchen, Verdächtigungen und Gemüthsbewegungen ist
die Spaltung in der liberalen Partei nicht zu heilen, -- wenn sie überhaupt
geheilt werden soll. Jedenfalls ist es der liberalen Sache förderlicher, die
Prinzipiellen Unterschiede mit demokratischer Offenheit bloszulegen, als sie um
des lieben Friedens willen zu vertuschen und den trügerischen Schein der
Einigkeit, der in der That niemanden mehr täuschen kann, aufrechtzuhalten,
daß er die Thätigkeit auf beiden Seiten lähmt und alle die Actionen ver¬
hindert, über welche sich nicht die gesammte liberale Partei in der Kürze


wird, doch nimmermehr einer Partei beizulegen sein, deren geistige Arbeit
zum großen Theile darin aufgeht, die widerstreitenden Elemente in ihrer
Mitte zu beschwichtigen. Dieser Umstand nöthigte sie, zumal in der deut¬
schen Frage, zu der negativen Haltung, welche den Schein des Radikalis¬
mus an sich trägt und welche stets an die Zeit des Verfassungsconflictes
erinnert. Damals konnte es ziemlich gleichgiltig sein, ob ein Abgeordneter
anncxionistisch oder augustenburgisch dachte; wenn aber die deutsche Frage,
wenn die brennendsten Interessen der nationalen Existenz auf das Tapet
kommen, da gehört es zu den Merkmalen einer wirklichen Partei, daß alle
ihre Genossen an einem Strange ziehen. Daß dies bei der Fortschrittspartei
nicht der Fall ist, erklärt zum Theil auch den Widerspruch zwischen ihren
Populären Prätentionen einerseits und der Art ihrer parlamentarischen Thätig¬
keit andrerseits. In ihren Rundschreiben und ähnlichen derartigen Manife¬
stationen klagt sie über die Schlaffheit des Volkes bei den Wahlen; aber
wenn sie damit Recht hat, darf man dann einem Volke, welches angeblich
durch dreimaliges Wählen in einem Jahre schon ermüdet ist, auf die Dauer ein
negirendes und radicalisirendes politisches Verhalten zumuthen? — Die Fort¬
schrittspartei hat die größere Anzahl ihrer Wahlkreise verloren, und zwar in
den alten Provinzen meistens an Konservative. Wie ungerecht ist es daher von
ihr, sich über die gemäßigt liberalen Wahlen der neuen Provinzen (welche
an unserem Verfassungsconflict nicht betheiligt waren und unmöglich geneigt
sein können, diese häßliche Erbschaft anzutreten), zu beschweren, durch welche
gerettet wird, was zu retten ist und was die Fortschrittspartei, wenn auf
sich allein angewiesen, jedenfalls verlieren würde. Viele ihrer Wahlsitze
wären vielleicht dem gemäßigten Liberalismus zu erhalten gewesen, hätte sie
es nicht meistentheils absichtlich und grundsätzlich auf die Entscheidung zwischen
den beiden Extremen ankommen lassen, — gerade als ob sie vorzöge, ihre
Ansichten in der Minorität zu verkündigen, statt durch bescheidene Ver¬
mittelung praktische Resultate zu erzielen.

So lange sie selbst die Gesinnungsunterschiede mit päpstlicher Unfehlbar¬
keit ihren frühern Gefährten „ins Gewissen zuschieben" bemüht ist,
darf sie sich über solchen, vielleicht ungerechten, Verdacht kaum beschweren.
Aber mit Gefühlsausbrüchen, Verdächtigungen und Gemüthsbewegungen ist
die Spaltung in der liberalen Partei nicht zu heilen, — wenn sie überhaupt
geheilt werden soll. Jedenfalls ist es der liberalen Sache förderlicher, die
Prinzipiellen Unterschiede mit demokratischer Offenheit bloszulegen, als sie um
des lieben Friedens willen zu vertuschen und den trügerischen Schein der
Einigkeit, der in der That niemanden mehr täuschen kann, aufrechtzuhalten,
daß er die Thätigkeit auf beiden Seiten lähmt und alle die Actionen ver¬
hindert, über welche sich nicht die gesammte liberale Partei in der Kürze


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/183>, abgerufen am 01.07.2024.