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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Worte Gottes beschuldigt, der unterlegene Theil nichts dagegen hat, wenn die
früher so verhaßten Nothhosen dem anderen das rechte Verständniß der heil.
Schrift erschlossen, der siegende dagegen bald von Vaterlandsverräthern spricht,
für die kein Galgen zu hoch sei, bald unter der Hand wieder die Bande der
alten Freundschaft durch Anerbietungen und reelle Erweise von Wohlwollen zu
erneuern sich bemüht. Kennt man die engen Beziehungen, welche die Führer
jener Partei früher unter einander verbanden, und die ihr in der Meinung
der großen Menge den Charakter eines protestantischen Jesuitenordens ver¬
liehen, und betrachtet nun die Gründe des jetzigen Zerwürfnisses, so kann
es niemandem zweifelhaft sein, was sie zusammengeführt hat, und was sie
jetzt, nachdem die ursprünglichen politischen Verhältnisse sich verschoben haben,
mit derselben Leidenschaftlichkeit entzweit -- die Herrschsucht. Ein Ueberblick
über das gegenseitige Verhalten der kurhessischen und preußischen Conserva-
tiven dürfte dieses jedem Unparteiischen klar machen. Kurhessen war durch
alle äußeren und inneren Verhältnisse zu einer der preußischen möglichst
conformen Politik angewiesen. Die geschichtlichen Traditionen wiesen Volk
wie Regentenhaus auch auf dieselbe hin. Mit ganz geringen Schwankungen
folgte auch Kurhessen dem viel mächtigeren Preußen bis in die Revolutions¬
zeit von 1848- Bekanntlich gehörte das Märzministerium in Cassel zu den
der frankfurter Centralgewalt am willfährigsten gehorchenden Behörden; die
weitaus größte Anzahl aller' Gebildeten in Kurhessen gehörte der erbkaiser¬
lichen Partei des Parlaments an. Selbst Vilmar ereiferte sich damals für
die preußische Spitze in seinem "Volksfreund" und tadelte es aufs strengste,
als Friedrich Wilhelm IV- die ihm angetragene Kaiserkrone ausschlug. Er
schrieb am 9. Mai 1849: "Gab es für den König von Preußen gar keinen
andern Weg als den eingeschlagenen? Wir dächten: ja!... Der Widerstand
gegen seine Kaiserwürde von Seiten der vier Könige in Deutschland beruht
doch einzig und allein darauf, daß diese ihre "Souveränetät" nicht hergeben
wollen, und darin liegt -- man sage, was man wolle -- etre Verkennung
ihrer Stellung und des politischen Standpunktes von Deutschland. Der
frankfurter Versammlung gegenüber mochten die Könige auch diese ihre Sou¬
veränetät nicht aufgeben; trat aber der König von Preußen mit Muth und
Entschiedenheit an die Spitze von Deutschland und nahm er die Angelegen¬
heit kräftig aus der Hand der Reichsversammlung in die seinige, so wäre
dieses Aufgeben jedenfalls in nicht allzulanger Frist auf befriedigende Weise
erzielt worden. Daß man in Preußen für die schlimmen Dinge, mit welchen
in Würtemberg der Anfang gemacht worden ist, gar kein Auge und Gefühl
hat, das müssen wir der preußischen Politik zum bestimmten Vorwurf msichen.
Das heißt das kleine und halb eingebildete Recht zärtlich gepflegt und das
große wirkliche Recht gleichgiltig fahren gelassen; das heißt die Empfindlich-


Worte Gottes beschuldigt, der unterlegene Theil nichts dagegen hat, wenn die
früher so verhaßten Nothhosen dem anderen das rechte Verständniß der heil.
Schrift erschlossen, der siegende dagegen bald von Vaterlandsverräthern spricht,
für die kein Galgen zu hoch sei, bald unter der Hand wieder die Bande der
alten Freundschaft durch Anerbietungen und reelle Erweise von Wohlwollen zu
erneuern sich bemüht. Kennt man die engen Beziehungen, welche die Führer
jener Partei früher unter einander verbanden, und die ihr in der Meinung
der großen Menge den Charakter eines protestantischen Jesuitenordens ver¬
liehen, und betrachtet nun die Gründe des jetzigen Zerwürfnisses, so kann
es niemandem zweifelhaft sein, was sie zusammengeführt hat, und was sie
jetzt, nachdem die ursprünglichen politischen Verhältnisse sich verschoben haben,
mit derselben Leidenschaftlichkeit entzweit — die Herrschsucht. Ein Ueberblick
über das gegenseitige Verhalten der kurhessischen und preußischen Conserva-
tiven dürfte dieses jedem Unparteiischen klar machen. Kurhessen war durch
alle äußeren und inneren Verhältnisse zu einer der preußischen möglichst
conformen Politik angewiesen. Die geschichtlichen Traditionen wiesen Volk
wie Regentenhaus auch auf dieselbe hin. Mit ganz geringen Schwankungen
folgte auch Kurhessen dem viel mächtigeren Preußen bis in die Revolutions¬
zeit von 1848- Bekanntlich gehörte das Märzministerium in Cassel zu den
der frankfurter Centralgewalt am willfährigsten gehorchenden Behörden; die
weitaus größte Anzahl aller' Gebildeten in Kurhessen gehörte der erbkaiser¬
lichen Partei des Parlaments an. Selbst Vilmar ereiferte sich damals für
die preußische Spitze in seinem „Volksfreund" und tadelte es aufs strengste,
als Friedrich Wilhelm IV- die ihm angetragene Kaiserkrone ausschlug. Er
schrieb am 9. Mai 1849: „Gab es für den König von Preußen gar keinen
andern Weg als den eingeschlagenen? Wir dächten: ja!... Der Widerstand
gegen seine Kaiserwürde von Seiten der vier Könige in Deutschland beruht
doch einzig und allein darauf, daß diese ihre „Souveränetät" nicht hergeben
wollen, und darin liegt — man sage, was man wolle — etre Verkennung
ihrer Stellung und des politischen Standpunktes von Deutschland. Der
frankfurter Versammlung gegenüber mochten die Könige auch diese ihre Sou¬
veränetät nicht aufgeben; trat aber der König von Preußen mit Muth und
Entschiedenheit an die Spitze von Deutschland und nahm er die Angelegen¬
heit kräftig aus der Hand der Reichsversammlung in die seinige, so wäre
dieses Aufgeben jedenfalls in nicht allzulanger Frist auf befriedigende Weise
erzielt worden. Daß man in Preußen für die schlimmen Dinge, mit welchen
in Würtemberg der Anfang gemacht worden ist, gar kein Auge und Gefühl
hat, das müssen wir der preußischen Politik zum bestimmten Vorwurf msichen.
Das heißt das kleine und halb eingebildete Recht zärtlich gepflegt und das
große wirkliche Recht gleichgiltig fahren gelassen; das heißt die Empfindlich-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/158>, abgerufen am 05.02.2025.