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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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in Hessen zu Preußen etwas näher einzugehen, ist aus Vorlesungen ent¬
standen, die der damalige Gymnasialdirektor Dr. Vilmar im Winter 1844/45
vor einem gemischten Publikum in Marburg gehalten hat. Während die
Vorträge, die derselbe ein Jahr früher über die Geschichte der deutschen Lite¬
ratur vor denselben Zuhörern gehalten hatte, schon längst dem großen Publi¬
kum übergeben waren (1844) und in einem Dutzend starker Auflagen ver¬
breitet sind, hat das Manuscript dieses "Handbüchleins für Freunde des
deutschen Volksliedes" ruhig im Schrein seines Verfassers gelegen. Obwohl
vielfach dazu aufgefordert, konnte derselbe nicht dazu gelangen, es dem Druck
zu übergeben. Da kam das Jahr 1866 und zu der äußern Anregung "kam
eine stärkere innere". "Arnim", so heißt es im Vorwort, "gab in der Zeit
des tiefsten Elends und der tiefsten Erniedrigung Deutschlands seine Zeit¬
schrift heraus "Trösteinsamkeit, eine Zeitung für Einsiedler" -- für diejenigen
bestimmt, welche dem Gram und Schmerz über das Vaterland auf Augen¬
blicke, sich mit der Poesie in die stilleste Einsamkeit zurückziehend, entgehen
wollten. Das entsetzliche Unglück meiner angestammten Fürsten und meines
Vaterlandes ließ mich nach einer Beschäftigung greifen, in welcher ich den
Zorn über den ungeheuern Abfall von dem Worte Gottes und den Abscheu
vor den Abgefallenen, wenn auch nicht überwinden, doch zeitweise vergessen
konnte. Denn wenn diese Empfindungen durch die Beschäftigung mit dem
Worte Gottes, worin meine Berufsarbeit besteht, genährt und gesteigert
werden, und dies so und nicht anders sein kann und darf, so sehnt man sich
doch in menschlicher Weise nach Augenblicken der irdischen Erholung und
Abspannung. Das alte treue Volkslied, die unvergängliche Harmonie des
Volksgesanges alter Zeit, hat wenigstens soviel vermocht, mich auf Stunden,
auf Tage, der quälenden Gedanken an das Entsetzen der Zeit zu überheben
und das finstere Grauen der Gegenwart auf Augenblicke in der sonnenhellen
Heiterkeit der Dichtung untertauchen zu lassen." Betrachtet man nun aber
das Büchlein näher, so wird man bald erkennen, worin die Beschäftigung
des Verfassers mit seinem Manuscripte hauptsächlich bestanden hat. Denn
abgesehen von vereinzelten Literaturnachträgen, die gar nicht zu umgehen
waren, ist dasselbe -- vielleicht nur hier und da gekürzt --unverändert abge¬
druckt und mit einigen Kraftstellen über das Jahr 1866 und die gegen¬
wärtige politische Situation gewürzt worden. So heißt es z. B. S. 93 zu
dem Liede Fr. Försters "Zum Gedächtniß des Ausrufs der Freiwilligen":
Mit diesem Liede, welches schon damals (1820) ein Trauerlied war, stehen
wir an dem schon längst mit Rasen bewachsenen Grabe einer früh verstor¬
benen Jugendgeliebten. Im Jahre 1863 am 18. October haben wir eine
große und schöne Zeit begraben, und 1866 das Grab der Erde gleichgemacht-
Gegenwärtig dient es als Exerzierplatz." In offenbarer Anspielung auf die


in Hessen zu Preußen etwas näher einzugehen, ist aus Vorlesungen ent¬
standen, die der damalige Gymnasialdirektor Dr. Vilmar im Winter 1844/45
vor einem gemischten Publikum in Marburg gehalten hat. Während die
Vorträge, die derselbe ein Jahr früher über die Geschichte der deutschen Lite¬
ratur vor denselben Zuhörern gehalten hatte, schon längst dem großen Publi¬
kum übergeben waren (1844) und in einem Dutzend starker Auflagen ver¬
breitet sind, hat das Manuscript dieses „Handbüchleins für Freunde des
deutschen Volksliedes" ruhig im Schrein seines Verfassers gelegen. Obwohl
vielfach dazu aufgefordert, konnte derselbe nicht dazu gelangen, es dem Druck
zu übergeben. Da kam das Jahr 1866 und zu der äußern Anregung „kam
eine stärkere innere". „Arnim", so heißt es im Vorwort, „gab in der Zeit
des tiefsten Elends und der tiefsten Erniedrigung Deutschlands seine Zeit¬
schrift heraus „Trösteinsamkeit, eine Zeitung für Einsiedler" — für diejenigen
bestimmt, welche dem Gram und Schmerz über das Vaterland auf Augen¬
blicke, sich mit der Poesie in die stilleste Einsamkeit zurückziehend, entgehen
wollten. Das entsetzliche Unglück meiner angestammten Fürsten und meines
Vaterlandes ließ mich nach einer Beschäftigung greifen, in welcher ich den
Zorn über den ungeheuern Abfall von dem Worte Gottes und den Abscheu
vor den Abgefallenen, wenn auch nicht überwinden, doch zeitweise vergessen
konnte. Denn wenn diese Empfindungen durch die Beschäftigung mit dem
Worte Gottes, worin meine Berufsarbeit besteht, genährt und gesteigert
werden, und dies so und nicht anders sein kann und darf, so sehnt man sich
doch in menschlicher Weise nach Augenblicken der irdischen Erholung und
Abspannung. Das alte treue Volkslied, die unvergängliche Harmonie des
Volksgesanges alter Zeit, hat wenigstens soviel vermocht, mich auf Stunden,
auf Tage, der quälenden Gedanken an das Entsetzen der Zeit zu überheben
und das finstere Grauen der Gegenwart auf Augenblicke in der sonnenhellen
Heiterkeit der Dichtung untertauchen zu lassen." Betrachtet man nun aber
das Büchlein näher, so wird man bald erkennen, worin die Beschäftigung
des Verfassers mit seinem Manuscripte hauptsächlich bestanden hat. Denn
abgesehen von vereinzelten Literaturnachträgen, die gar nicht zu umgehen
waren, ist dasselbe — vielleicht nur hier und da gekürzt —unverändert abge¬
druckt und mit einigen Kraftstellen über das Jahr 1866 und die gegen¬
wärtige politische Situation gewürzt worden. So heißt es z. B. S. 93 zu
dem Liede Fr. Försters „Zum Gedächtniß des Ausrufs der Freiwilligen":
Mit diesem Liede, welches schon damals (1820) ein Trauerlied war, stehen
wir an dem schon längst mit Rasen bewachsenen Grabe einer früh verstor¬
benen Jugendgeliebten. Im Jahre 1863 am 18. October haben wir eine
große und schöne Zeit begraben, und 1866 das Grab der Erde gleichgemacht-
Gegenwärtig dient es als Exerzierplatz." In offenbarer Anspielung auf die


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[0156] in Hessen zu Preußen etwas näher einzugehen, ist aus Vorlesungen ent¬ standen, die der damalige Gymnasialdirektor Dr. Vilmar im Winter 1844/45 vor einem gemischten Publikum in Marburg gehalten hat. Während die Vorträge, die derselbe ein Jahr früher über die Geschichte der deutschen Lite¬ ratur vor denselben Zuhörern gehalten hatte, schon längst dem großen Publi¬ kum übergeben waren (1844) und in einem Dutzend starker Auflagen ver¬ breitet sind, hat das Manuscript dieses „Handbüchleins für Freunde des deutschen Volksliedes" ruhig im Schrein seines Verfassers gelegen. Obwohl vielfach dazu aufgefordert, konnte derselbe nicht dazu gelangen, es dem Druck zu übergeben. Da kam das Jahr 1866 und zu der äußern Anregung „kam eine stärkere innere". „Arnim", so heißt es im Vorwort, „gab in der Zeit des tiefsten Elends und der tiefsten Erniedrigung Deutschlands seine Zeit¬ schrift heraus „Trösteinsamkeit, eine Zeitung für Einsiedler" — für diejenigen bestimmt, welche dem Gram und Schmerz über das Vaterland auf Augen¬ blicke, sich mit der Poesie in die stilleste Einsamkeit zurückziehend, entgehen wollten. Das entsetzliche Unglück meiner angestammten Fürsten und meines Vaterlandes ließ mich nach einer Beschäftigung greifen, in welcher ich den Zorn über den ungeheuern Abfall von dem Worte Gottes und den Abscheu vor den Abgefallenen, wenn auch nicht überwinden, doch zeitweise vergessen konnte. Denn wenn diese Empfindungen durch die Beschäftigung mit dem Worte Gottes, worin meine Berufsarbeit besteht, genährt und gesteigert werden, und dies so und nicht anders sein kann und darf, so sehnt man sich doch in menschlicher Weise nach Augenblicken der irdischen Erholung und Abspannung. Das alte treue Volkslied, die unvergängliche Harmonie des Volksgesanges alter Zeit, hat wenigstens soviel vermocht, mich auf Stunden, auf Tage, der quälenden Gedanken an das Entsetzen der Zeit zu überheben und das finstere Grauen der Gegenwart auf Augenblicke in der sonnenhellen Heiterkeit der Dichtung untertauchen zu lassen." Betrachtet man nun aber das Büchlein näher, so wird man bald erkennen, worin die Beschäftigung des Verfassers mit seinem Manuscripte hauptsächlich bestanden hat. Denn abgesehen von vereinzelten Literaturnachträgen, die gar nicht zu umgehen waren, ist dasselbe — vielleicht nur hier und da gekürzt —unverändert abge¬ druckt und mit einigen Kraftstellen über das Jahr 1866 und die gegen¬ wärtige politische Situation gewürzt worden. So heißt es z. B. S. 93 zu dem Liede Fr. Försters „Zum Gedächtniß des Ausrufs der Freiwilligen": Mit diesem Liede, welches schon damals (1820) ein Trauerlied war, stehen wir an dem schon längst mit Rasen bewachsenen Grabe einer früh verstor¬ benen Jugendgeliebten. Im Jahre 1863 am 18. October haben wir eine große und schöne Zeit begraben, und 1866 das Grab der Erde gleichgemacht- Gegenwärtig dient es als Exerzierplatz." In offenbarer Anspielung auf die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/156>, abgerufen am 02.10.2024.