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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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gerechnet werden. Nichtsdestoweniger erhellt 'schon aus den steten Friedens-
betheuerungen großer und kleiner Politiker, daß man sich Friedenshoffnungen
einreden muß, um überhaupt welche zu haben. Die Nothwendigkeit, sein Volk
zu beschäftigen, ist für den dritten Napoleon dringender denn je, und daß es
zur Zeit an dem Gegenstande für eine solche Beschäftigung gebricht, ist grade
ein Hauptgrund für die allgemeine Unruhe. In früheren friedlichen Zeiten
waren es die äußeren Verhältnisse, welche die Ruhe der Völker störten, heut¬
zutage ist grade die Abwesenheit äußerer Störungen ein Gegenstand der
Sorge. Trotzdem, daß das abgelaufene Jahr mit dem kaiserlichen Versprechen
freisinniger Modificationen des herrschenden Systems inaugurirt wurde, ist
von solchen in dem modernen Frankreich nie weniger die Rede gewesen, wie
zur Zeit; die Unzufriedenheit der Bevölkerung ist dagegen durch eine Reihe
diplomatischer Mißerfolge, getäuschter Hoffnungen und gewaltsamer Polizei-
und Präfectureingriffe beträchtlich gesteigert worden. War es schon vor
Jahresfrist nothwendig, die Franzosen von der kritischen Beschäftigung mit
der Lage ihres Staats abzulenken, so ist diese Nothwendigkeit seit den letzten
zwölf Monaten noch gewachsen, und vergeblich sieht man sich in Paris nach
dem erforderlichen Material zu neuen Blitzableitern um. Während die prik-
kelnde Unruhe der Pariser die geringfügigsten Vorkommnisse des täglichen
Lebens aufgreift und zu Ereignissen zu erweitern sucht, Fabrikanten und Pro¬
letarier gegen die Wirthschaftspolitik des Baron Haußmann Sturm laufen,
Männer von der Loyalität Michel Chevalier's über die Zerrüttung der Fi¬
nanzen der Hauptstadt laute Klage führen, die festlich geschmückten Ballsäle des
Tuilerienpalastes zufolge der Verstimmung der Börsen und Fabrikantenkreise leer
bleiben und der Lärm über siebzehn neue Preßprocesse die journalistische Welt
erfüllt, weiß der Moniteur seine Leser nicht besser als mit der Beschreibung per¬
sischer Hochzeitsfeierlichkeiten zu unterhalten. Unter so abnormen Verhältnissen
wie denen der Hauptstadt des zweiten französischen Kaiserreichs ist ein sol¬
ches Verhältniß auf die Dauer unhaltbar und die Ungezwungenheit, mit welcher
die gouvernementalen Redner des gesetzgebenden Körpers die Nothwendigkeit
der Kriegsbereitschaft aus der innern Lage ableiten, bekundet deutlich, daß
jene seit anderthalb Jahren stets neu wiederholte cynische Lehre, nach welcher
das innere Unbehagen des Volks an und für sich ein berechtigter easus delli
ist, heute ebensoviel Jünger zählt, als im Herbst 1866. Daß es an einer
wirklichen Veranlassung zu einem Conflict Frankreichs mit dem neuen deut¬
schen Staat fehlt, macht die Sache eher schlimmer als besser, denn die Con-
jecturalpolitik, zu welcher die Börsen einmal verurtheilt sind, entbehrt aller
Anhaltepunkte; sie sucht dieselben darum in tausend Dingen, die ihr sonst
für gleichgiltig gegolten hätten; hat man doch selbst von der Möglichkeit
eines französischen Kreuzzugs nach Japan gefabelt, um nur mit seinen Be-


1S*

gerechnet werden. Nichtsdestoweniger erhellt 'schon aus den steten Friedens-
betheuerungen großer und kleiner Politiker, daß man sich Friedenshoffnungen
einreden muß, um überhaupt welche zu haben. Die Nothwendigkeit, sein Volk
zu beschäftigen, ist für den dritten Napoleon dringender denn je, und daß es
zur Zeit an dem Gegenstande für eine solche Beschäftigung gebricht, ist grade
ein Hauptgrund für die allgemeine Unruhe. In früheren friedlichen Zeiten
waren es die äußeren Verhältnisse, welche die Ruhe der Völker störten, heut¬
zutage ist grade die Abwesenheit äußerer Störungen ein Gegenstand der
Sorge. Trotzdem, daß das abgelaufene Jahr mit dem kaiserlichen Versprechen
freisinniger Modificationen des herrschenden Systems inaugurirt wurde, ist
von solchen in dem modernen Frankreich nie weniger die Rede gewesen, wie
zur Zeit; die Unzufriedenheit der Bevölkerung ist dagegen durch eine Reihe
diplomatischer Mißerfolge, getäuschter Hoffnungen und gewaltsamer Polizei-
und Präfectureingriffe beträchtlich gesteigert worden. War es schon vor
Jahresfrist nothwendig, die Franzosen von der kritischen Beschäftigung mit
der Lage ihres Staats abzulenken, so ist diese Nothwendigkeit seit den letzten
zwölf Monaten noch gewachsen, und vergeblich sieht man sich in Paris nach
dem erforderlichen Material zu neuen Blitzableitern um. Während die prik-
kelnde Unruhe der Pariser die geringfügigsten Vorkommnisse des täglichen
Lebens aufgreift und zu Ereignissen zu erweitern sucht, Fabrikanten und Pro¬
letarier gegen die Wirthschaftspolitik des Baron Haußmann Sturm laufen,
Männer von der Loyalität Michel Chevalier's über die Zerrüttung der Fi¬
nanzen der Hauptstadt laute Klage führen, die festlich geschmückten Ballsäle des
Tuilerienpalastes zufolge der Verstimmung der Börsen und Fabrikantenkreise leer
bleiben und der Lärm über siebzehn neue Preßprocesse die journalistische Welt
erfüllt, weiß der Moniteur seine Leser nicht besser als mit der Beschreibung per¬
sischer Hochzeitsfeierlichkeiten zu unterhalten. Unter so abnormen Verhältnissen
wie denen der Hauptstadt des zweiten französischen Kaiserreichs ist ein sol¬
ches Verhältniß auf die Dauer unhaltbar und die Ungezwungenheit, mit welcher
die gouvernementalen Redner des gesetzgebenden Körpers die Nothwendigkeit
der Kriegsbereitschaft aus der innern Lage ableiten, bekundet deutlich, daß
jene seit anderthalb Jahren stets neu wiederholte cynische Lehre, nach welcher
das innere Unbehagen des Volks an und für sich ein berechtigter easus delli
ist, heute ebensoviel Jünger zählt, als im Herbst 1866. Daß es an einer
wirklichen Veranlassung zu einem Conflict Frankreichs mit dem neuen deut¬
schen Staat fehlt, macht die Sache eher schlimmer als besser, denn die Con-
jecturalpolitik, zu welcher die Börsen einmal verurtheilt sind, entbehrt aller
Anhaltepunkte; sie sucht dieselben darum in tausend Dingen, die ihr sonst
für gleichgiltig gegolten hätten; hat man doch selbst von der Möglichkeit
eines französischen Kreuzzugs nach Japan gefabelt, um nur mit seinen Be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/123>, abgerufen am 24.08.2024.