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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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nicht überraschen, die religiösen und socialen Lehren der Muselmänner seien
im geraden Widerspruch mit denen der Christen, daraus ergebe sich die voll¬
ständige Unmöglichkeit, beide unter dasselbe Regime zu stellen, es handle sich
also darum, ihr Nebeneinanderbestehen zu sichern (organiser Isur eoexistönev
parallele), ohne die eine der andern opfern zu lassen. Die Lösung dieses
Problems sei auch gar nicht so schwierig, weil sie in den muselmännischen
Traditionen ganz begründet sei.

Erst seit höchstens 40 Jahren hätten die Türken versucht, sich die ihnen
unterworfenen Nationalitäten zu assimiliren, sie hätten geglaubt, der euro¬
päischen Civilisation zu huldigen, indem sie die Theorien der Absorption und
Centralisation angenommen und so die christlichen Bevölkerungen ihrer pro¬
vinziellen und communalen Autonomie beraubt, deren sie bis Anfang dieses
Jahrhunderts mit befriedigenden Resultate genossen, und gerade seitdem seien
die innern Zerwürfnisse chronisch geworden, am meisten da, wo wie in
Candia, Epirus, Bulgarien und Bosnien dies System am weitesten getrieben
sei, während die Inseln Chios und Samos, wo die Trennung beider Racen
bestehen geblieben, sich verhältnißmäßigen Wohlstandes erfreuen. Dies Prinzip
der Racenautonomie müsse als Grundlage der ganzen administrativen Orga¬
nisation aller Provinzen der europäischen Türkei eingeführt worden. Was
die Christen betreffe, so müsse jede Provinz, jeder Canton, jede Gemeinde
durch einheimische Chefs verwaltet werden, welche ebenso, wie ihnen zur Seite
stehende Provinzial- und Gemeinderäthe, frei von den Bevölkerungen zu
wählen sein würden; ebenso sollte die Gerichtsorganisation ausschließlich für
die Christen nur auf das Wahlprinzip begründet sein, Streitigkeiten zwischen
Christen und Muselmännern würden durch gemischte Gerichtshöfe zu ent¬
scheiden sein, wobei aber jeder Christ berechtigt sein sollte, die Anwesenheit
eines fremden Consuls zu verlangen, welcher die Unparteilichkeit der Ent¬
scheidung zu überwachen haben würde. Die Christen würden von allem
Militärdienst gegen eine Abgabe frei sein, die nur auf die Personen von
18--35 Jahren fiele, gleichwohl das Recht haben, wie die Muselmänner in
die Armee einzutreten, und nur zum Dienst in der lokalen Miliz verpflichtet
sein. Der Gesammtbetrag der Abgaben' würde alle drei Jahre durch die
Pforte unter Mitwirkung einer berathenden Commission der Provinzialräthe
festgestellt werden. Was den Zutritt zu den öffentlichen Aemtern betrifft, so
sollen dieselben allen Unterthanen des Sultans ohne Unterschied zugänglich
sein. Die in der Türkei wohnenden Fremden sollen noch eine gewisse Zeit
ihr Recht der Exterritorialität genießen, wenn jene Reformen aber Wurzel
gefaßt, fo sollen die aus den Capitulationen herrührenden Vortheile weg¬
fallen. Anscheinend haben diese Vorschläge viel sür sich, aber die Erfahrung
eines Kenners der türkischen Zustände, wie Prokesch, durchschaute leicht, daß


nicht überraschen, die religiösen und socialen Lehren der Muselmänner seien
im geraden Widerspruch mit denen der Christen, daraus ergebe sich die voll¬
ständige Unmöglichkeit, beide unter dasselbe Regime zu stellen, es handle sich
also darum, ihr Nebeneinanderbestehen zu sichern (organiser Isur eoexistönev
parallele), ohne die eine der andern opfern zu lassen. Die Lösung dieses
Problems sei auch gar nicht so schwierig, weil sie in den muselmännischen
Traditionen ganz begründet sei.

Erst seit höchstens 40 Jahren hätten die Türken versucht, sich die ihnen
unterworfenen Nationalitäten zu assimiliren, sie hätten geglaubt, der euro¬
päischen Civilisation zu huldigen, indem sie die Theorien der Absorption und
Centralisation angenommen und so die christlichen Bevölkerungen ihrer pro¬
vinziellen und communalen Autonomie beraubt, deren sie bis Anfang dieses
Jahrhunderts mit befriedigenden Resultate genossen, und gerade seitdem seien
die innern Zerwürfnisse chronisch geworden, am meisten da, wo wie in
Candia, Epirus, Bulgarien und Bosnien dies System am weitesten getrieben
sei, während die Inseln Chios und Samos, wo die Trennung beider Racen
bestehen geblieben, sich verhältnißmäßigen Wohlstandes erfreuen. Dies Prinzip
der Racenautonomie müsse als Grundlage der ganzen administrativen Orga¬
nisation aller Provinzen der europäischen Türkei eingeführt worden. Was
die Christen betreffe, so müsse jede Provinz, jeder Canton, jede Gemeinde
durch einheimische Chefs verwaltet werden, welche ebenso, wie ihnen zur Seite
stehende Provinzial- und Gemeinderäthe, frei von den Bevölkerungen zu
wählen sein würden; ebenso sollte die Gerichtsorganisation ausschließlich für
die Christen nur auf das Wahlprinzip begründet sein, Streitigkeiten zwischen
Christen und Muselmännern würden durch gemischte Gerichtshöfe zu ent¬
scheiden sein, wobei aber jeder Christ berechtigt sein sollte, die Anwesenheit
eines fremden Consuls zu verlangen, welcher die Unparteilichkeit der Ent¬
scheidung zu überwachen haben würde. Die Christen würden von allem
Militärdienst gegen eine Abgabe frei sein, die nur auf die Personen von
18—35 Jahren fiele, gleichwohl das Recht haben, wie die Muselmänner in
die Armee einzutreten, und nur zum Dienst in der lokalen Miliz verpflichtet
sein. Der Gesammtbetrag der Abgaben' würde alle drei Jahre durch die
Pforte unter Mitwirkung einer berathenden Commission der Provinzialräthe
festgestellt werden. Was den Zutritt zu den öffentlichen Aemtern betrifft, so
sollen dieselben allen Unterthanen des Sultans ohne Unterschied zugänglich
sein. Die in der Türkei wohnenden Fremden sollen noch eine gewisse Zeit
ihr Recht der Exterritorialität genießen, wenn jene Reformen aber Wurzel
gefaßt, fo sollen die aus den Capitulationen herrührenden Vortheile weg¬
fallen. Anscheinend haben diese Vorschläge viel sür sich, aber die Erfahrung
eines Kenners der türkischen Zustände, wie Prokesch, durchschaute leicht, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/110>, abgerufen am 03.07.2024.