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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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besuchen müsse. Sowie er fort war, verlangte sie, daß der Sohn sein Wort
halten und ihre rasende Begier stillen sollte. Als er unter immer anderen
Vorwänden sich ihrem Anblick entzog und sie aus den sich widersprechenden
Anworten und Versprechungen erkannte, daß er sie täusche, wandte sich rasch
ihre verbrecherische Liebe in tödtlichen Haß. Sie berieth sich mit einem jeder
Schandthat fähigen Sklaven, den sie mit ins Haus gebracht hatte, und sie
wurden unter sich einig, den Unglücklichen zu todten. Der Schurke kaufte ein schnell
wirkendes Gist und that es in den Wein, aus dem der Jüngling den Tod
trinken sollte. Während die ruchlosen Menschen über eine passende Gelegenheit,
ihm den Trank zu bieten, berathschlagen, kommt zufällig der zweite Knabe, der
wirkliche Sohn der schändlichen Frau, nach beendigtem Morgenunterricht nach
Hause, und begierig auss Frühstück faßt er in seiner Unwissenheit den dastehen¬
den Becher mit dem Gift und leert ihn aus einen Zug. Sowie er das für
den Bruder bestimmte Gift getrunken hatte, stürzte er entseelt zu Boden; der
Pädagog, über seinen plötzlichen Tod entsetzt, rief jammernd und schreiend die
Mutter und die Hausgenossen herbei. Sobald man sah, daß der Trank ver-
giftet war, beschuldigte man den und jenen als Urheber. Das verruchte Weib
aber, als ein Spiegel stiefmütterlichen Hasses, nicht gerührt durch den frühen
Tod des eigenen Kindes, das Bewußtsein ihrer Schuld, das Unglück der Familie
und die Trauer ihres Gatten, benutzte den Trauerfall für ihre Rache, schickte
einen Boten mit der Schreckenskunde ihrem reisenden Manne nach und verklagte
nach seiner schleunigen Rückkehr mit unverschämter Frechheit den Stiefsohn, durch
sein Gist sei ihr Sohn umgekommen. Insofern log sie nicht, als der Knabe
das für den Bruder bestimmte Gift zu sich genommen hatte, aber als Grund
des Mordes gab sie an, daß sie sich seiner verbrecherischen Begier nicht habe
fügen wollen; ja nicht zufrieden mit dieser schändlichen Lüge behauptete-sie, er
habe sie als Mitwissende mit dem Schwerte bedroht. Der unglückliche Vater war
durch den Verlust beider Sohne wie vernichtet; denn den jüngeren sah er vor
seinen Augen zu Grabe tragen, den älteren -- das wußte er gewiß -- mußten
die Gerichte zum Tode verurtheilen, und dazu erfüllte ihn das verstellte Jammern
der blind von ihm geliebten Frau mit tödtlichem Haß gegen seinen eigenen
Sohn.

Kaum war das feierliche Leichenbegängniß beendigt, so begab sich der un¬
glückliche Greis mit Thränen in den Augen, das weiße Haar mit Asche bestreut,
von der Grabstätte gradeswegs auf den Markt. Weinend umfaßte er die Kniee
der Vorsteher und ohne Ahnung von den Ränken der schändlichen Frau ver¬
langte er voll Eifer den Tod seines Sohnes, der die Ehre des Vaters an¬
gegriffen, den Bruder getödtet, die Stiefmutter bedroht habe. Durch seine
Trauer erregte er bei Rath und Bürgerschaft solchen Zorn und Unwillen, daß
"lies rief, ohne Untersuchung und Richterspruch abzuwarten, ein solches Scheusal


besuchen müsse. Sowie er fort war, verlangte sie, daß der Sohn sein Wort
halten und ihre rasende Begier stillen sollte. Als er unter immer anderen
Vorwänden sich ihrem Anblick entzog und sie aus den sich widersprechenden
Anworten und Versprechungen erkannte, daß er sie täusche, wandte sich rasch
ihre verbrecherische Liebe in tödtlichen Haß. Sie berieth sich mit einem jeder
Schandthat fähigen Sklaven, den sie mit ins Haus gebracht hatte, und sie
wurden unter sich einig, den Unglücklichen zu todten. Der Schurke kaufte ein schnell
wirkendes Gist und that es in den Wein, aus dem der Jüngling den Tod
trinken sollte. Während die ruchlosen Menschen über eine passende Gelegenheit,
ihm den Trank zu bieten, berathschlagen, kommt zufällig der zweite Knabe, der
wirkliche Sohn der schändlichen Frau, nach beendigtem Morgenunterricht nach
Hause, und begierig auss Frühstück faßt er in seiner Unwissenheit den dastehen¬
den Becher mit dem Gift und leert ihn aus einen Zug. Sowie er das für
den Bruder bestimmte Gift getrunken hatte, stürzte er entseelt zu Boden; der
Pädagog, über seinen plötzlichen Tod entsetzt, rief jammernd und schreiend die
Mutter und die Hausgenossen herbei. Sobald man sah, daß der Trank ver-
giftet war, beschuldigte man den und jenen als Urheber. Das verruchte Weib
aber, als ein Spiegel stiefmütterlichen Hasses, nicht gerührt durch den frühen
Tod des eigenen Kindes, das Bewußtsein ihrer Schuld, das Unglück der Familie
und die Trauer ihres Gatten, benutzte den Trauerfall für ihre Rache, schickte
einen Boten mit der Schreckenskunde ihrem reisenden Manne nach und verklagte
nach seiner schleunigen Rückkehr mit unverschämter Frechheit den Stiefsohn, durch
sein Gist sei ihr Sohn umgekommen. Insofern log sie nicht, als der Knabe
das für den Bruder bestimmte Gift zu sich genommen hatte, aber als Grund
des Mordes gab sie an, daß sie sich seiner verbrecherischen Begier nicht habe
fügen wollen; ja nicht zufrieden mit dieser schändlichen Lüge behauptete-sie, er
habe sie als Mitwissende mit dem Schwerte bedroht. Der unglückliche Vater war
durch den Verlust beider Sohne wie vernichtet; denn den jüngeren sah er vor
seinen Augen zu Grabe tragen, den älteren — das wußte er gewiß — mußten
die Gerichte zum Tode verurtheilen, und dazu erfüllte ihn das verstellte Jammern
der blind von ihm geliebten Frau mit tödtlichem Haß gegen seinen eigenen
Sohn.

Kaum war das feierliche Leichenbegängniß beendigt, so begab sich der un¬
glückliche Greis mit Thränen in den Augen, das weiße Haar mit Asche bestreut,
von der Grabstätte gradeswegs auf den Markt. Weinend umfaßte er die Kniee
der Vorsteher und ohne Ahnung von den Ränken der schändlichen Frau ver¬
langte er voll Eifer den Tod seines Sohnes, der die Ehre des Vaters an¬
gegriffen, den Bruder getödtet, die Stiefmutter bedroht habe. Durch seine
Trauer erregte er bei Rath und Bürgerschaft solchen Zorn und Unwillen, daß
«lies rief, ohne Untersuchung und Richterspruch abzuwarten, ein solches Scheusal


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/469>, abgerufen am 26.06.2024.