Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

unterlag sie dem heftigen Angriff und versteckte des Herzens tiefe Wunde durch
eine verstellte Krankheit. Wer weiß nicht, daß bei Kranken und Liebenden sich
dieselben Symptome des körperlichen Verfalls zeigen? Entstellende Blässe, matte
Augen, wankende Kniee, unruhiger Schlaf, behemmter und dadurch wieder be¬
schleunigter Athem; man sollte meinen, daß es die Fieberhitze sei, welche sie
so beunruhigte -- aber sie weinte auch. Wie blind sind die Aerzte! Was be¬
deutete denn der unruhige Pulsschlag, die glühende Hitze, das mühselige Athem¬
holen, das unaufhörliche Herumwälzen von einer Seite auf die andere? Mein
Gott, wie leicht begriff, wenn auch nicht ein studirter Arzt, doch ein erfahrener
Liebhaber die Gluth, die nicht ihren Körper verzehrte. Endlich läßt sie, unfähig
den Sturm der Leidenschaft noch länger schweigend zu ertragen, den Sohn zu
sich rufen -- den Sohn, ore gern wählte sie, um sich die Schamröthe zu er¬
sparen, einen anderen Namen! Der Jüngling läßt die kranke Mutter nicht war¬
ten; mit vor Trauer gefurchter Stirn betritt er das Schlafgemach der Frau
seines Vaters, der Mutter seines Bruders, nur ihr zu gehorsamen beflissen.
Sie, durch das lange peinigende Stillschweigen ermattet, in zweifelnder Ueber-
legung befangen, verwirft jedes Wort, das ihr passend schien, im nächsten Augen¬
blick und kann kämpfend mit der Scham keinen Anfang zu reden finden. Der
Jüngling, der sich nichts arges vermuthet, fragt mit besorgter Miene von selbst
nach der Ursache ihres Leidens. Da, als ihr so die Gelegenheit geboten wird,
saßt sie Muth, und unter heftigen Thränen sich das Gesicht verhüllend, richtet
sie mit zitternder Stimme an ihn die Worte: "Ursache und Veranlassung
meiner Schmerzen und meine einzige Hilfe und Rettung bist du. Deine
Blicke sind durch meine Augen tief in mein Herz gedrungen und haben
dort einen heftigen Brand entzündet. Habe Mitleid mit mir, die ich nur um
deinetwillen zu Grunde gehe, und beruhige dein Gewissen, indem du deinem
Vater seine dem Tode verfallene Gattin erhältst; sein Bild, das ich in deinem
Antlitz erkenne, zwingt mich zur Liebe. Vertraue dem Schutz der Einsamkeit
und nutze die günstige Gelegenheit: was niemand weiß, ist ja so gut wie nicht
geschehen." Ganz betäubt von dem unerwarteten Schlag wollte der Jüngling,
der solchen Frevel verabscheute, nicht durch strenges Zurückweisen das Uebel ver¬
schlimmern, sondern durch kluges Hinhalten lindern. Er sagt zu, fordert sie auf
guten Muthes zu sein, dringt in sie, sich zu stärken und zu erholen, bis eine
Reise des Vaters ihnen volle Freiheit zum Genusse geben würde, und entzieht
sich rasch dem gefährlichen Anblick der Stiefmutter. Um bei einem solchen
Familienunglück wohl berathen zu sein, suchte er sogleich einen alten Erzieher
von erprobter Gesinnung auf, und nach längerer Berathung schien es ihm
das beste, daß er durch schleunige Flucht dem drohenden Sturm zu entgehen
suche. Das Weib aber, das keinen Aufschub ertragen mochte, wußte unter
irgend einem Vorwand ihren Mann zu bereden, daß er ein entferntes Landgut


unterlag sie dem heftigen Angriff und versteckte des Herzens tiefe Wunde durch
eine verstellte Krankheit. Wer weiß nicht, daß bei Kranken und Liebenden sich
dieselben Symptome des körperlichen Verfalls zeigen? Entstellende Blässe, matte
Augen, wankende Kniee, unruhiger Schlaf, behemmter und dadurch wieder be¬
schleunigter Athem; man sollte meinen, daß es die Fieberhitze sei, welche sie
so beunruhigte — aber sie weinte auch. Wie blind sind die Aerzte! Was be¬
deutete denn der unruhige Pulsschlag, die glühende Hitze, das mühselige Athem¬
holen, das unaufhörliche Herumwälzen von einer Seite auf die andere? Mein
Gott, wie leicht begriff, wenn auch nicht ein studirter Arzt, doch ein erfahrener
Liebhaber die Gluth, die nicht ihren Körper verzehrte. Endlich läßt sie, unfähig
den Sturm der Leidenschaft noch länger schweigend zu ertragen, den Sohn zu
sich rufen — den Sohn, ore gern wählte sie, um sich die Schamröthe zu er¬
sparen, einen anderen Namen! Der Jüngling läßt die kranke Mutter nicht war¬
ten; mit vor Trauer gefurchter Stirn betritt er das Schlafgemach der Frau
seines Vaters, der Mutter seines Bruders, nur ihr zu gehorsamen beflissen.
Sie, durch das lange peinigende Stillschweigen ermattet, in zweifelnder Ueber-
legung befangen, verwirft jedes Wort, das ihr passend schien, im nächsten Augen¬
blick und kann kämpfend mit der Scham keinen Anfang zu reden finden. Der
Jüngling, der sich nichts arges vermuthet, fragt mit besorgter Miene von selbst
nach der Ursache ihres Leidens. Da, als ihr so die Gelegenheit geboten wird,
saßt sie Muth, und unter heftigen Thränen sich das Gesicht verhüllend, richtet
sie mit zitternder Stimme an ihn die Worte: „Ursache und Veranlassung
meiner Schmerzen und meine einzige Hilfe und Rettung bist du. Deine
Blicke sind durch meine Augen tief in mein Herz gedrungen und haben
dort einen heftigen Brand entzündet. Habe Mitleid mit mir, die ich nur um
deinetwillen zu Grunde gehe, und beruhige dein Gewissen, indem du deinem
Vater seine dem Tode verfallene Gattin erhältst; sein Bild, das ich in deinem
Antlitz erkenne, zwingt mich zur Liebe. Vertraue dem Schutz der Einsamkeit
und nutze die günstige Gelegenheit: was niemand weiß, ist ja so gut wie nicht
geschehen." Ganz betäubt von dem unerwarteten Schlag wollte der Jüngling,
der solchen Frevel verabscheute, nicht durch strenges Zurückweisen das Uebel ver¬
schlimmern, sondern durch kluges Hinhalten lindern. Er sagt zu, fordert sie auf
guten Muthes zu sein, dringt in sie, sich zu stärken und zu erholen, bis eine
Reise des Vaters ihnen volle Freiheit zum Genusse geben würde, und entzieht
sich rasch dem gefährlichen Anblick der Stiefmutter. Um bei einem solchen
Familienunglück wohl berathen zu sein, suchte er sogleich einen alten Erzieher
von erprobter Gesinnung auf, und nach längerer Berathung schien es ihm
das beste, daß er durch schleunige Flucht dem drohenden Sturm zu entgehen
suche. Das Weib aber, das keinen Aufschub ertragen mochte, wußte unter
irgend einem Vorwand ihren Mann zu bereden, daß er ein entferntes Landgut


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0468" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192229"/>
            <p xml:id="ID_1297" prev="#ID_1296" next="#ID_1298"> unterlag sie dem heftigen Angriff und versteckte des Herzens tiefe Wunde durch<lb/>
eine verstellte Krankheit. Wer weiß nicht, daß bei Kranken und Liebenden sich<lb/>
dieselben Symptome des körperlichen Verfalls zeigen? Entstellende Blässe, matte<lb/>
Augen, wankende Kniee, unruhiger Schlaf, behemmter und dadurch wieder be¬<lb/>
schleunigter Athem; man sollte meinen, daß es die Fieberhitze sei, welche sie<lb/>
so beunruhigte &#x2014; aber sie weinte auch. Wie blind sind die Aerzte! Was be¬<lb/>
deutete denn der unruhige Pulsschlag, die glühende Hitze, das mühselige Athem¬<lb/>
holen, das unaufhörliche Herumwälzen von einer Seite auf die andere? Mein<lb/>
Gott, wie leicht begriff, wenn auch nicht ein studirter Arzt, doch ein erfahrener<lb/>
Liebhaber die Gluth, die nicht ihren Körper verzehrte. Endlich läßt sie, unfähig<lb/>
den Sturm der Leidenschaft noch länger schweigend zu ertragen, den Sohn zu<lb/>
sich rufen &#x2014; den Sohn, ore gern wählte sie, um sich die Schamröthe zu er¬<lb/>
sparen, einen anderen Namen! Der Jüngling läßt die kranke Mutter nicht war¬<lb/>
ten; mit vor Trauer gefurchter Stirn betritt er das Schlafgemach der Frau<lb/>
seines Vaters, der Mutter seines Bruders, nur ihr zu gehorsamen beflissen.<lb/>
Sie, durch das lange peinigende Stillschweigen ermattet, in zweifelnder Ueber-<lb/>
legung befangen, verwirft jedes Wort, das ihr passend schien, im nächsten Augen¬<lb/>
blick und kann kämpfend mit der Scham keinen Anfang zu reden finden. Der<lb/>
Jüngling, der sich nichts arges vermuthet, fragt mit besorgter Miene von selbst<lb/>
nach der Ursache ihres Leidens. Da, als ihr so die Gelegenheit geboten wird,<lb/>
saßt sie Muth, und unter heftigen Thränen sich das Gesicht verhüllend, richtet<lb/>
sie mit zitternder Stimme an ihn die Worte: &#x201E;Ursache und Veranlassung<lb/>
meiner Schmerzen und meine einzige Hilfe und Rettung bist du. Deine<lb/>
Blicke sind durch meine Augen tief in mein Herz gedrungen und haben<lb/>
dort einen heftigen Brand entzündet. Habe Mitleid mit mir, die ich nur um<lb/>
deinetwillen zu Grunde gehe, und beruhige dein Gewissen, indem du deinem<lb/>
Vater seine dem Tode verfallene Gattin erhältst; sein Bild, das ich in deinem<lb/>
Antlitz erkenne, zwingt mich zur Liebe. Vertraue dem Schutz der Einsamkeit<lb/>
und nutze die günstige Gelegenheit: was niemand weiß, ist ja so gut wie nicht<lb/>
geschehen." Ganz betäubt von dem unerwarteten Schlag wollte der Jüngling,<lb/>
der solchen Frevel verabscheute, nicht durch strenges Zurückweisen das Uebel ver¬<lb/>
schlimmern, sondern durch kluges Hinhalten lindern. Er sagt zu, fordert sie auf<lb/>
guten Muthes zu sein, dringt in sie, sich zu stärken und zu erholen, bis eine<lb/>
Reise des Vaters ihnen volle Freiheit zum Genusse geben würde, und entzieht<lb/>
sich rasch dem gefährlichen Anblick der Stiefmutter.  Um bei einem solchen<lb/>
Familienunglück wohl berathen zu sein, suchte er sogleich einen alten Erzieher<lb/>
von erprobter Gesinnung auf, und nach längerer Berathung schien es ihm<lb/>
das beste, daß er durch schleunige Flucht dem drohenden Sturm zu entgehen<lb/>
suche. Das Weib aber, das keinen Aufschub ertragen mochte, wußte unter<lb/>
irgend einem Vorwand ihren Mann zu bereden, daß er ein entferntes Landgut</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0468] unterlag sie dem heftigen Angriff und versteckte des Herzens tiefe Wunde durch eine verstellte Krankheit. Wer weiß nicht, daß bei Kranken und Liebenden sich dieselben Symptome des körperlichen Verfalls zeigen? Entstellende Blässe, matte Augen, wankende Kniee, unruhiger Schlaf, behemmter und dadurch wieder be¬ schleunigter Athem; man sollte meinen, daß es die Fieberhitze sei, welche sie so beunruhigte — aber sie weinte auch. Wie blind sind die Aerzte! Was be¬ deutete denn der unruhige Pulsschlag, die glühende Hitze, das mühselige Athem¬ holen, das unaufhörliche Herumwälzen von einer Seite auf die andere? Mein Gott, wie leicht begriff, wenn auch nicht ein studirter Arzt, doch ein erfahrener Liebhaber die Gluth, die nicht ihren Körper verzehrte. Endlich läßt sie, unfähig den Sturm der Leidenschaft noch länger schweigend zu ertragen, den Sohn zu sich rufen — den Sohn, ore gern wählte sie, um sich die Schamröthe zu er¬ sparen, einen anderen Namen! Der Jüngling läßt die kranke Mutter nicht war¬ ten; mit vor Trauer gefurchter Stirn betritt er das Schlafgemach der Frau seines Vaters, der Mutter seines Bruders, nur ihr zu gehorsamen beflissen. Sie, durch das lange peinigende Stillschweigen ermattet, in zweifelnder Ueber- legung befangen, verwirft jedes Wort, das ihr passend schien, im nächsten Augen¬ blick und kann kämpfend mit der Scham keinen Anfang zu reden finden. Der Jüngling, der sich nichts arges vermuthet, fragt mit besorgter Miene von selbst nach der Ursache ihres Leidens. Da, als ihr so die Gelegenheit geboten wird, saßt sie Muth, und unter heftigen Thränen sich das Gesicht verhüllend, richtet sie mit zitternder Stimme an ihn die Worte: „Ursache und Veranlassung meiner Schmerzen und meine einzige Hilfe und Rettung bist du. Deine Blicke sind durch meine Augen tief in mein Herz gedrungen und haben dort einen heftigen Brand entzündet. Habe Mitleid mit mir, die ich nur um deinetwillen zu Grunde gehe, und beruhige dein Gewissen, indem du deinem Vater seine dem Tode verfallene Gattin erhältst; sein Bild, das ich in deinem Antlitz erkenne, zwingt mich zur Liebe. Vertraue dem Schutz der Einsamkeit und nutze die günstige Gelegenheit: was niemand weiß, ist ja so gut wie nicht geschehen." Ganz betäubt von dem unerwarteten Schlag wollte der Jüngling, der solchen Frevel verabscheute, nicht durch strenges Zurückweisen das Uebel ver¬ schlimmern, sondern durch kluges Hinhalten lindern. Er sagt zu, fordert sie auf guten Muthes zu sein, dringt in sie, sich zu stärken und zu erholen, bis eine Reise des Vaters ihnen volle Freiheit zum Genusse geben würde, und entzieht sich rasch dem gefährlichen Anblick der Stiefmutter. Um bei einem solchen Familienunglück wohl berathen zu sein, suchte er sogleich einen alten Erzieher von erprobter Gesinnung auf, und nach längerer Berathung schien es ihm das beste, daß er durch schleunige Flucht dem drohenden Sturm zu entgehen suche. Das Weib aber, das keinen Aufschub ertragen mochte, wußte unter irgend einem Vorwand ihren Mann zu bereden, daß er ein entferntes Landgut

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/468
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/468>, abgerufen am 28.09.2024.