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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Spannung und Interesse wird den Provin^ialversaMmlungen der neuen Pro¬
vinzen allenthalben gefolgt werden und der alte Katechismus derRadicalen ist,
nach welchem ständisch-provinzielle Versammlungen immer nur vom Uebel sind, ist
demnach wiederum um einen seiner Glaubensartikel ärmer geworden. Auch an
diesem Stück zeigt es sich, daß unsere liberale Parteidogmatik -- Dank ihrem
Ursprung in den Tagen der Manteuffel und Westphalen -- der Revision und
Ergänzung sehr viel bedürftiger ist, als man geglaubt hat; die Fähigkeit zu
lernen und zu bessern hat sich aber -- wenigstens in einer der freisinnigen Frac-
tionen, so rasch entwickelt, daß diese Schäden alle Aussicht haben, in Bälde gut
gemacht zu sein. In der Politik ist die Erfahrung eben die einzige zu¬
verlässige Lehrerin und von der Schule, durch welche der deutsche Liberalismus,
dem die Möglichkeit praktischer Thätigkeit fast immer gefehlt hat. gehen mühte,
liegen ja erst die untersten Curse hinter uns. Wenn man bedenkt, daß die
englischen Whigs nach eigenem Geständniß trotz ihrer langjährigen Herrschaft im
siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert durch das dreißigjährige Toryregiment
der Pitt-Castlereagh-Wcllingtonschen Periode um einen großen Theil ihres Ge¬
schicks für die praktische Behandlung der Geschäfte gebracht worden waren, so
wird man um die Erklärung für den dvctnnären Character, den der deutsche
Liberalismus in den Herbst 1866 mitbrachte nicht verlegen sein und den Werde¬
zustand des nationalliberalen Programms für einen Vorzug ansehen müssen.

Während alles, was für die nationale Sache Herz und Verständniß hat,
seine Blicke nach Berlin richtete und die außerdeutschen Staatsmänner die
Spannung theilten, mit welcher in Deutschland dem Zusammentritt des nord¬
deutschen Parlaments entgegengesehen wurde, waren die europäischen Revolu¬
tionäre anderweitig beschäftigt; sie wallfahrteten "ach Genf und Lausanne, wo
der Friedenscongreß und eine socialistische Arbciterassvciation tagten, indessen gleich¬
zeitig in Belgien ein Katholikencvngreß versammelt war. um in seiner Weise radicale
Politik zu treiben. Selbst die anfangs blos lächerlichen, zuletzt scandaleufen
Auftritte der Genfer Versammlung sind nicht im Stande gewesen, unseren
"Entschiedener" über die wahre Natur des Radicalismus die An.r,en zu öffnen,
Von welchem dieselben die Wiedergeburt Europas und Deutschlands erwarten.
Unbekümmert um Thatsachen, welche die ganze gebildete Welt zur entrüsteten
Zeugin gehabt haben, verkünden die Propheten der "Zukunft" und "die Volks¬
zeitung" noch immer, daß das Heil von denen zu erwarten sei, welche außer-
halb des Bodens der gegebenen Verhältnisse stehen und daß der Faustkampf,
mit welchem die Friedcnsliga ihre diesjährige Thätigkeit abschloß, das Werk von
Muckern, Jesuiten und aus Aengstlichkeit händelsüchtig gewordener Bourgeois sei.
Eine Versammlung, in welcher Ludwig Simon die äußerste Rechte repräsentirt,
Fanny Lewald neue zehn Gebote verkündet, und der Kriegsmann Garibaldi
zu seiner Freunde Entsetzen Theorie der Politik treibt, soll der wahre Ausdruck


Spannung und Interesse wird den Provin^ialversaMmlungen der neuen Pro¬
vinzen allenthalben gefolgt werden und der alte Katechismus derRadicalen ist,
nach welchem ständisch-provinzielle Versammlungen immer nur vom Uebel sind, ist
demnach wiederum um einen seiner Glaubensartikel ärmer geworden. Auch an
diesem Stück zeigt es sich, daß unsere liberale Parteidogmatik — Dank ihrem
Ursprung in den Tagen der Manteuffel und Westphalen — der Revision und
Ergänzung sehr viel bedürftiger ist, als man geglaubt hat; die Fähigkeit zu
lernen und zu bessern hat sich aber — wenigstens in einer der freisinnigen Frac-
tionen, so rasch entwickelt, daß diese Schäden alle Aussicht haben, in Bälde gut
gemacht zu sein. In der Politik ist die Erfahrung eben die einzige zu¬
verlässige Lehrerin und von der Schule, durch welche der deutsche Liberalismus,
dem die Möglichkeit praktischer Thätigkeit fast immer gefehlt hat. gehen mühte,
liegen ja erst die untersten Curse hinter uns. Wenn man bedenkt, daß die
englischen Whigs nach eigenem Geständniß trotz ihrer langjährigen Herrschaft im
siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert durch das dreißigjährige Toryregiment
der Pitt-Castlereagh-Wcllingtonschen Periode um einen großen Theil ihres Ge¬
schicks für die praktische Behandlung der Geschäfte gebracht worden waren, so
wird man um die Erklärung für den dvctnnären Character, den der deutsche
Liberalismus in den Herbst 1866 mitbrachte nicht verlegen sein und den Werde¬
zustand des nationalliberalen Programms für einen Vorzug ansehen müssen.

Während alles, was für die nationale Sache Herz und Verständniß hat,
seine Blicke nach Berlin richtete und die außerdeutschen Staatsmänner die
Spannung theilten, mit welcher in Deutschland dem Zusammentritt des nord¬
deutschen Parlaments entgegengesehen wurde, waren die europäischen Revolu¬
tionäre anderweitig beschäftigt; sie wallfahrteten »ach Genf und Lausanne, wo
der Friedenscongreß und eine socialistische Arbciterassvciation tagten, indessen gleich¬
zeitig in Belgien ein Katholikencvngreß versammelt war. um in seiner Weise radicale
Politik zu treiben. Selbst die anfangs blos lächerlichen, zuletzt scandaleufen
Auftritte der Genfer Versammlung sind nicht im Stande gewesen, unseren
„Entschiedener" über die wahre Natur des Radicalismus die An.r,en zu öffnen,
Von welchem dieselben die Wiedergeburt Europas und Deutschlands erwarten.
Unbekümmert um Thatsachen, welche die ganze gebildete Welt zur entrüsteten
Zeugin gehabt haben, verkünden die Propheten der „Zukunft" und „die Volks¬
zeitung" noch immer, daß das Heil von denen zu erwarten sei, welche außer-
halb des Bodens der gegebenen Verhältnisse stehen und daß der Faustkampf,
mit welchem die Friedcnsliga ihre diesjährige Thätigkeit abschloß, das Werk von
Muckern, Jesuiten und aus Aengstlichkeit händelsüchtig gewordener Bourgeois sei.
Eine Versammlung, in welcher Ludwig Simon die äußerste Rechte repräsentirt,
Fanny Lewald neue zehn Gebote verkündet, und der Kriegsmann Garibaldi
zu seiner Freunde Entsetzen Theorie der Politik treibt, soll der wahre Ausdruck


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/35>, abgerufen am 19.10.2024.