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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Deutschland verloren gegangene Poesie des academischen Lebens hat sich auf
diesem vorgeschobenen Posten noch erhalten, ein einiger Bruderbund umfaßt die
vier großen, landsmannschaftlich gegliederten Verbindungen, denen zwei Drit¬
theile aller Studirenden angehören, und auch die außerhalb derselben stehenden
Jünger der Wissenschaft sind an das Gesetz ihrer Kommilitonen gebunden. Unge-
schieden durch Standes- und Vermögensvcrschiedenhciten, politische oder religiöse
Gegensätze, an denen es sonst nicht fehlt, finden sich die Jünglinge aus den drei
Landen in ihren Landsmannschaften zusammen; der strenge Theologe und der dilet¬
tantische Jünger der Landwirthschaft, der Bauernsohn und der Edelmann leben in
enger, jeder Einseitigkeit feindlichen Gemeinschaft, und selbst die einzelnen Russen-
Polen und Armenier, welche nach Dorpat kommen, werden zu deutschen Burschen,
begrüßen sich mit dem traulichen "Du" und lernen die Anfangsgründe unsrer
Sprache aus den Barbarismen des Comment. Der academische Senat besteht
zur Hälfte aus Landeskindern, zur Hälfte aus deutschen Einwanderern, zu allen
Zeiten hat er Namen von europäischem Ruf auszuweisen gehabt: die Astrono¬
men Mädler und Struve, die Mediciner Bitter, C. Schmidt, (den Chemiker und
Physiologen) Buchheim und Pirogow, --- Dabelow, Kurtz, Philippi, Kämptzu.a.
Aerzte, Theologen, Schulmänner und Pharmaceuten, die in Dorpat ihre Bil¬
dung empfangen haben, sind im gesammten russischen Reich, an der Wolga
und am Amur, in den eisigen Einöden Sibiriens und am Fuß des Kaukasus
zu finden -- ein dorpaler Diplom ist insbesondere für Mediciner und Phar¬
maceuten die beste Empfehlung, die in das Innere des russischen Reichs mit¬
gebracht werden kann. Die Hauptmasse der Zöglinge bleibt freilich in der Hei¬
mat, die in der dorpater Hochschule ihr theuerstes und werthvollstes Besitzthum
verehrt. -- Acht Gymnasien, welche zum Theil vom Staat, zum Theil von Cor-
poral-oren erhalten werden, bilden die Vorschule zu der Landesuniversität;
neben diesen bestehen verschiedene Privatgymnasien, unter denen die Anstalten
zu Fellin und Birtenruhe (bei Wenden) an erster Stelle zu nennen sind. Die
letztgenannte Anstalt besteht seit 42 Jahren unter der Leitung ihres hochver¬
dienten Begründers, eines Schülers Schleyermachers, des Dr. Albert Hollander
aus Riga, und hat reichen Segen gestiftet.

Bildet Dorpat das geistige Centrum des baltischen Lebens und den Punkt,
an welchem die Mehrzahl der Gebildeten, sonst durch provinzielle und ständi¬
sche Eigenthümlichkeiten geschieden, ein Mal im Leben zusammentrifft, um
Fühlung für das gesammte spätere Leben zu behalten, so erscheint Riga als
das Centrum des politischen, zumal des bürgerlichen Lebens. Während Dorpat
einen mehr oder minder ländlichen Eindruck macht und namentlich während der
Wintermonate der gesellschaftliche Sammelplatz des livländischen Adels ist,
trägt Riga, die älteste, reichste und politisch unabhängigste Stadt der drei
Provinzen ein ächt hanseatisches, reichsstädtisches Gepräge. Hier herrscht der


Deutschland verloren gegangene Poesie des academischen Lebens hat sich auf
diesem vorgeschobenen Posten noch erhalten, ein einiger Bruderbund umfaßt die
vier großen, landsmannschaftlich gegliederten Verbindungen, denen zwei Drit¬
theile aller Studirenden angehören, und auch die außerhalb derselben stehenden
Jünger der Wissenschaft sind an das Gesetz ihrer Kommilitonen gebunden. Unge-
schieden durch Standes- und Vermögensvcrschiedenhciten, politische oder religiöse
Gegensätze, an denen es sonst nicht fehlt, finden sich die Jünglinge aus den drei
Landen in ihren Landsmannschaften zusammen; der strenge Theologe und der dilet¬
tantische Jünger der Landwirthschaft, der Bauernsohn und der Edelmann leben in
enger, jeder Einseitigkeit feindlichen Gemeinschaft, und selbst die einzelnen Russen-
Polen und Armenier, welche nach Dorpat kommen, werden zu deutschen Burschen,
begrüßen sich mit dem traulichen „Du" und lernen die Anfangsgründe unsrer
Sprache aus den Barbarismen des Comment. Der academische Senat besteht
zur Hälfte aus Landeskindern, zur Hälfte aus deutschen Einwanderern, zu allen
Zeiten hat er Namen von europäischem Ruf auszuweisen gehabt: die Astrono¬
men Mädler und Struve, die Mediciner Bitter, C. Schmidt, (den Chemiker und
Physiologen) Buchheim und Pirogow, —- Dabelow, Kurtz, Philippi, Kämptzu.a.
Aerzte, Theologen, Schulmänner und Pharmaceuten, die in Dorpat ihre Bil¬
dung empfangen haben, sind im gesammten russischen Reich, an der Wolga
und am Amur, in den eisigen Einöden Sibiriens und am Fuß des Kaukasus
zu finden — ein dorpaler Diplom ist insbesondere für Mediciner und Phar¬
maceuten die beste Empfehlung, die in das Innere des russischen Reichs mit¬
gebracht werden kann. Die Hauptmasse der Zöglinge bleibt freilich in der Hei¬
mat, die in der dorpater Hochschule ihr theuerstes und werthvollstes Besitzthum
verehrt. — Acht Gymnasien, welche zum Theil vom Staat, zum Theil von Cor-
poral-oren erhalten werden, bilden die Vorschule zu der Landesuniversität;
neben diesen bestehen verschiedene Privatgymnasien, unter denen die Anstalten
zu Fellin und Birtenruhe (bei Wenden) an erster Stelle zu nennen sind. Die
letztgenannte Anstalt besteht seit 42 Jahren unter der Leitung ihres hochver¬
dienten Begründers, eines Schülers Schleyermachers, des Dr. Albert Hollander
aus Riga, und hat reichen Segen gestiftet.

Bildet Dorpat das geistige Centrum des baltischen Lebens und den Punkt,
an welchem die Mehrzahl der Gebildeten, sonst durch provinzielle und ständi¬
sche Eigenthümlichkeiten geschieden, ein Mal im Leben zusammentrifft, um
Fühlung für das gesammte spätere Leben zu behalten, so erscheint Riga als
das Centrum des politischen, zumal des bürgerlichen Lebens. Während Dorpat
einen mehr oder minder ländlichen Eindruck macht und namentlich während der
Wintermonate der gesellschaftliche Sammelplatz des livländischen Adels ist,
trägt Riga, die älteste, reichste und politisch unabhängigste Stadt der drei
Provinzen ein ächt hanseatisches, reichsstädtisches Gepräge. Hier herrscht der


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[0334] Deutschland verloren gegangene Poesie des academischen Lebens hat sich auf diesem vorgeschobenen Posten noch erhalten, ein einiger Bruderbund umfaßt die vier großen, landsmannschaftlich gegliederten Verbindungen, denen zwei Drit¬ theile aller Studirenden angehören, und auch die außerhalb derselben stehenden Jünger der Wissenschaft sind an das Gesetz ihrer Kommilitonen gebunden. Unge- schieden durch Standes- und Vermögensvcrschiedenhciten, politische oder religiöse Gegensätze, an denen es sonst nicht fehlt, finden sich die Jünglinge aus den drei Landen in ihren Landsmannschaften zusammen; der strenge Theologe und der dilet¬ tantische Jünger der Landwirthschaft, der Bauernsohn und der Edelmann leben in enger, jeder Einseitigkeit feindlichen Gemeinschaft, und selbst die einzelnen Russen- Polen und Armenier, welche nach Dorpat kommen, werden zu deutschen Burschen, begrüßen sich mit dem traulichen „Du" und lernen die Anfangsgründe unsrer Sprache aus den Barbarismen des Comment. Der academische Senat besteht zur Hälfte aus Landeskindern, zur Hälfte aus deutschen Einwanderern, zu allen Zeiten hat er Namen von europäischem Ruf auszuweisen gehabt: die Astrono¬ men Mädler und Struve, die Mediciner Bitter, C. Schmidt, (den Chemiker und Physiologen) Buchheim und Pirogow, —- Dabelow, Kurtz, Philippi, Kämptzu.a. Aerzte, Theologen, Schulmänner und Pharmaceuten, die in Dorpat ihre Bil¬ dung empfangen haben, sind im gesammten russischen Reich, an der Wolga und am Amur, in den eisigen Einöden Sibiriens und am Fuß des Kaukasus zu finden — ein dorpaler Diplom ist insbesondere für Mediciner und Phar¬ maceuten die beste Empfehlung, die in das Innere des russischen Reichs mit¬ gebracht werden kann. Die Hauptmasse der Zöglinge bleibt freilich in der Hei¬ mat, die in der dorpater Hochschule ihr theuerstes und werthvollstes Besitzthum verehrt. — Acht Gymnasien, welche zum Theil vom Staat, zum Theil von Cor- poral-oren erhalten werden, bilden die Vorschule zu der Landesuniversität; neben diesen bestehen verschiedene Privatgymnasien, unter denen die Anstalten zu Fellin und Birtenruhe (bei Wenden) an erster Stelle zu nennen sind. Die letztgenannte Anstalt besteht seit 42 Jahren unter der Leitung ihres hochver¬ dienten Begründers, eines Schülers Schleyermachers, des Dr. Albert Hollander aus Riga, und hat reichen Segen gestiftet. Bildet Dorpat das geistige Centrum des baltischen Lebens und den Punkt, an welchem die Mehrzahl der Gebildeten, sonst durch provinzielle und ständi¬ sche Eigenthümlichkeiten geschieden, ein Mal im Leben zusammentrifft, um Fühlung für das gesammte spätere Leben zu behalten, so erscheint Riga als das Centrum des politischen, zumal des bürgerlichen Lebens. Während Dorpat einen mehr oder minder ländlichen Eindruck macht und namentlich während der Wintermonate der gesellschaftliche Sammelplatz des livländischen Adels ist, trägt Riga, die älteste, reichste und politisch unabhängigste Stadt der drei Provinzen ein ächt hanseatisches, reichsstädtisches Gepräge. Hier herrscht der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/334>, abgerufen am 20.10.2024.