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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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zünden und Neugestaltungen des letzten Jahrzehnts fast ausnahmslos auf recht¬
zeitig geführte Kriege zurückzuführen sind; kein Wunder, daß die Mehrzahl
unserer Zeitgenossen von Fnedenscongrcssen noch weniger wissen will wie von
Kriegen. Ein französischer Schriftsteller hat während des vorigen Jahres gele¬
gentlich die Behauptung aufgestellt, die "leitenden Principien", in deren Namen
die Staatsmänner der legten Jahrhunderte die Organisation der europäischen
Völkerfamilie unternommen, hätten jederzeit in directem Gegensatz zu den Hand¬
lungen und Zwecken derselben gestanden; das von den Weisen des weflphäli-
chen Friedensschlusses ausgegebene Schlagwort vom "europäischen Gleichge¬
wicht" sei der Deckmantel für eine Reihe der frechsten, zum Zwecke der Hege¬
monie Frankreichs geführten Eroberungskriege gewesen, im Namen der 1789
aufs Schild erhobenen Phrase von der Brüderschaft aller Völker und der Con-
dorcetschen Sähe über die Verwerflichkeit der Eroberungskriege seien Belgien
und das linke Rheinufer erstritten worden, die Praxis der 1795 vom Convent
Publicirten Nichtinterventionstheorie sei ein Krieg Aller gegen Alle gewesen und
das vom wiener Kongreß eingeleitete Zeitalter der Legitimität habe mehr Re¬
volutionen und gewaltsame Thronwechsel aufzuweisen gehabt, als irgend ein
anderer Abschnitt der neuern Geschichte. -- Die Quintessenz dieser geistreichen
Hypothese ist, wie man glauben möchte, Gemeingut geworden, noch bevor die¬
selbe von Andre Cocbut im vorigen Jahrgang der Revue Ach äeux irioueles
aufgestellt worden. Wie die Völker nach Beendigung des italienischen Krieges
von einer allgemeinen Fiustenconferenz nichts wissen wollten und eine mittel¬
mäßige Brochure dazu hinreichte, den Congrcßgedanken in der Geburt zu er¬
sticken, so hat auch die in den letzten Wochen von Frankreich in Vorschlag ge-
brachte europäische Berathung über die Zukunft des Papstthums nirgend wirk¬
liche Sympathien gefunden. Die Lehre, daß der Welttheil von einem Punkte
aus beherrscht werden müsse, daß die Großmächte berechtigt seien, die Rolle
der europäischen Vorsehung zu spielen und den einzelnen Völkern der angeb¬
lichen "allgemeinen Wohlfahrt" zu Liebe Beschränkungen oder Hem¬
mungen ihrer natürlichen Entwickelung vorzuschreiben, sie sieht sich vergebens
uach einer Gemeinde von Gläubigen um. Sind die Nachrichten, welche die
Zeitungen über die Moustierschen Einladungen zum Congreß veröffentlicht haben,
begründet, so hat Napoleon auf die Theorie von dem vormundschaftlichen Recht
der Großmächte selbst Verzicht geleistet und nicht nur Nußland, Preußen und
England, sondern sämmtliche Staaten zweiten Ranges, sogar Sachsen, (das
durch seinen Eintritt in den norddeutschen Bund sein Recht aus eine selbständige
Diplomatie aufgegeben hat) zur Theilnahme an dem Schiedsgericht geladen,
das die künftigen Beziehungen Italiens zum äomimum temporale des Papstes
^gelu soll. Selbst Griechenland und der Großtürke sind als Teilnehmer
dieser Konferenz über den heiligen Stuhl "in Aussicht genommen".


zünden und Neugestaltungen des letzten Jahrzehnts fast ausnahmslos auf recht¬
zeitig geführte Kriege zurückzuführen sind; kein Wunder, daß die Mehrzahl
unserer Zeitgenossen von Fnedenscongrcssen noch weniger wissen will wie von
Kriegen. Ein französischer Schriftsteller hat während des vorigen Jahres gele¬
gentlich die Behauptung aufgestellt, die „leitenden Principien", in deren Namen
die Staatsmänner der legten Jahrhunderte die Organisation der europäischen
Völkerfamilie unternommen, hätten jederzeit in directem Gegensatz zu den Hand¬
lungen und Zwecken derselben gestanden; das von den Weisen des weflphäli-
chen Friedensschlusses ausgegebene Schlagwort vom „europäischen Gleichge¬
wicht" sei der Deckmantel für eine Reihe der frechsten, zum Zwecke der Hege¬
monie Frankreichs geführten Eroberungskriege gewesen, im Namen der 1789
aufs Schild erhobenen Phrase von der Brüderschaft aller Völker und der Con-
dorcetschen Sähe über die Verwerflichkeit der Eroberungskriege seien Belgien
und das linke Rheinufer erstritten worden, die Praxis der 1795 vom Convent
Publicirten Nichtinterventionstheorie sei ein Krieg Aller gegen Alle gewesen und
das vom wiener Kongreß eingeleitete Zeitalter der Legitimität habe mehr Re¬
volutionen und gewaltsame Thronwechsel aufzuweisen gehabt, als irgend ein
anderer Abschnitt der neuern Geschichte. — Die Quintessenz dieser geistreichen
Hypothese ist, wie man glauben möchte, Gemeingut geworden, noch bevor die¬
selbe von Andre Cocbut im vorigen Jahrgang der Revue Ach äeux irioueles
aufgestellt worden. Wie die Völker nach Beendigung des italienischen Krieges
von einer allgemeinen Fiustenconferenz nichts wissen wollten und eine mittel¬
mäßige Brochure dazu hinreichte, den Congrcßgedanken in der Geburt zu er¬
sticken, so hat auch die in den letzten Wochen von Frankreich in Vorschlag ge-
brachte europäische Berathung über die Zukunft des Papstthums nirgend wirk¬
liche Sympathien gefunden. Die Lehre, daß der Welttheil von einem Punkte
aus beherrscht werden müsse, daß die Großmächte berechtigt seien, die Rolle
der europäischen Vorsehung zu spielen und den einzelnen Völkern der angeb¬
lichen „allgemeinen Wohlfahrt" zu Liebe Beschränkungen oder Hem¬
mungen ihrer natürlichen Entwickelung vorzuschreiben, sie sieht sich vergebens
uach einer Gemeinde von Gläubigen um. Sind die Nachrichten, welche die
Zeitungen über die Moustierschen Einladungen zum Congreß veröffentlicht haben,
begründet, so hat Napoleon auf die Theorie von dem vormundschaftlichen Recht
der Großmächte selbst Verzicht geleistet und nicht nur Nußland, Preußen und
England, sondern sämmtliche Staaten zweiten Ranges, sogar Sachsen, (das
durch seinen Eintritt in den norddeutschen Bund sein Recht aus eine selbständige
Diplomatie aufgegeben hat) zur Theilnahme an dem Schiedsgericht geladen,
das die künftigen Beziehungen Italiens zum äomimum temporale des Papstes
^gelu soll. Selbst Griechenland und der Großtürke sind als Teilnehmer
dieser Konferenz über den heiligen Stuhl „in Aussicht genommen".


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/319>, abgerufen am 19.10.2024.