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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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und ihrem Entwickelungsgang Theil zu haben. Durch den Reichthum seiner
Städte, den Besitz der Universität, einer polytechnischen Schule, einer aufstie¬
benden politischen Presse, der ersten baltischen Eisenbahn, endlich dadurch, daß
Riga der Sitz des General-Gouverneurs und der baltischen Centralverwal-
tung ist, hat Livland ein gewisses geistiges Uebergewicht über die Nachbarpro¬
vinzen gewonnen; Estland, das nur eine bedeutende Stadt, das alte Neval
auszuweisen hat und wegen der Ungunst seiner Bodenverhältnisse die ärmste
der drei Provinzen ist. erscheint minder begünstigt. Dazu kommt, daß dieses
Land zufolge der nahen Nachbarschaft Petersburgs fremden Einflüssen am mei¬
sten ausgesetzt ist. --In einer Beziehung ist Livland freilich schlimmer daran,
als die beiden Schwesterprovinzen -- in kirchlicher. Etwa 100.000 der ärmsten
Letten und Ehlen traten während einer Hungersnot!) der vierziger Jahre, ver¬
führt durch die trügerischen Versprechungen russischer Wanderprediger zur griech.-
orth. Kirche über und in den meisten Kirchspielen des Landes ist noch gegen¬
wärtig neben der lutherischen eine russische Kirche zu finden. Die Geschichte
dieser Konversionen bildet einen der traurigsten Abschnitte in der Vergangenheit
Livlands, sie fällt in eine Zeit kirchlicher und politischer Verkommenheit, aus
welcher das Land sich nur miihsam herausgearbeitet hat. Die Herrschaft der
Frohne. die Theilnahmslosigkeit der deutschen Bevölkerung an dem Geschick der
UrVölker, zum Theil auch die Trägheit des geistlichen Standes hatten es ver¬
schuldet, daß Tausende ihrer bäuerlichen Landsleute durch den Abfall von der
Kirche ihrer Väter eine bessere Zukunft zu erkaufen versucht hatten. Die armen
Vcthörten sollten ihre Untreue hart genug büßen. Nachdem den agrarischen
Schäden nach Kräften abgeholfen, ein neuer Geist in die Prediger des Landes gefahren
War. die Volksbildung, dank den zu Dorpat und Wall errichteten Schulmeister-
Seminaren beträchtliche Fortschritte gemacht hatte, wurden die convertirten
Letten und Ehlen (nahezu zehn Procent der ländlichen Bevölkerung) gewahr,
daß die neue Kirche, mit welcher sie es versucht halten, nicht im Stande sei.
ihren geistigen und geistlichen Bedürfnissen zu entsprechen, daß sie von den Bil¬
dungsfortschritten ihrer lutherisch gebliebenen Brüder ausgeschlossen blieben, daß
zu der deutschen Bevölkerung des Landes, von der alle Bildung und aller
Tortschritt ausging, die jetzt unermüdlich für Schulen, Bücher und Zeitungen sorgte,
^"daß sie zu dieser in einen nahezu feindlichen Gegensatz getreten seien. Ihr Zu¬
stand drohte ein unhaltbarer zu werden; mitten in einem protestantischen Lande
Gehend, waren sie durch ihre Sprache, ihre Bildung und den Gang ihrer Ent¬
wickelung von dem russischen Volke geschieden, dessen religiöser Cultus ihnen
etwas Fremdes. Aeußerliches blieb. Ein mächtiger Rückschlag trat ein -- schaaren-
^else strömten die Convertiten zu den weltlichen und geistlichen Autoritäten
des Landes, um die Wiederaufnahme in die lutherische Kirche zu erbitten, aber
hartes unerbittliches Gesetz, das trotz der durch die Landcsprivilcgien gesicherten


und ihrem Entwickelungsgang Theil zu haben. Durch den Reichthum seiner
Städte, den Besitz der Universität, einer polytechnischen Schule, einer aufstie¬
benden politischen Presse, der ersten baltischen Eisenbahn, endlich dadurch, daß
Riga der Sitz des General-Gouverneurs und der baltischen Centralverwal-
tung ist, hat Livland ein gewisses geistiges Uebergewicht über die Nachbarpro¬
vinzen gewonnen; Estland, das nur eine bedeutende Stadt, das alte Neval
auszuweisen hat und wegen der Ungunst seiner Bodenverhältnisse die ärmste
der drei Provinzen ist. erscheint minder begünstigt. Dazu kommt, daß dieses
Land zufolge der nahen Nachbarschaft Petersburgs fremden Einflüssen am mei¬
sten ausgesetzt ist. —In einer Beziehung ist Livland freilich schlimmer daran,
als die beiden Schwesterprovinzen — in kirchlicher. Etwa 100.000 der ärmsten
Letten und Ehlen traten während einer Hungersnot!) der vierziger Jahre, ver¬
führt durch die trügerischen Versprechungen russischer Wanderprediger zur griech.-
orth. Kirche über und in den meisten Kirchspielen des Landes ist noch gegen¬
wärtig neben der lutherischen eine russische Kirche zu finden. Die Geschichte
dieser Konversionen bildet einen der traurigsten Abschnitte in der Vergangenheit
Livlands, sie fällt in eine Zeit kirchlicher und politischer Verkommenheit, aus
welcher das Land sich nur miihsam herausgearbeitet hat. Die Herrschaft der
Frohne. die Theilnahmslosigkeit der deutschen Bevölkerung an dem Geschick der
UrVölker, zum Theil auch die Trägheit des geistlichen Standes hatten es ver¬
schuldet, daß Tausende ihrer bäuerlichen Landsleute durch den Abfall von der
Kirche ihrer Väter eine bessere Zukunft zu erkaufen versucht hatten. Die armen
Vcthörten sollten ihre Untreue hart genug büßen. Nachdem den agrarischen
Schäden nach Kräften abgeholfen, ein neuer Geist in die Prediger des Landes gefahren
War. die Volksbildung, dank den zu Dorpat und Wall errichteten Schulmeister-
Seminaren beträchtliche Fortschritte gemacht hatte, wurden die convertirten
Letten und Ehlen (nahezu zehn Procent der ländlichen Bevölkerung) gewahr,
daß die neue Kirche, mit welcher sie es versucht halten, nicht im Stande sei.
ihren geistigen und geistlichen Bedürfnissen zu entsprechen, daß sie von den Bil¬
dungsfortschritten ihrer lutherisch gebliebenen Brüder ausgeschlossen blieben, daß
zu der deutschen Bevölkerung des Landes, von der alle Bildung und aller
Tortschritt ausging, die jetzt unermüdlich für Schulen, Bücher und Zeitungen sorgte,
^"daß sie zu dieser in einen nahezu feindlichen Gegensatz getreten seien. Ihr Zu¬
stand drohte ein unhaltbarer zu werden; mitten in einem protestantischen Lande
Gehend, waren sie durch ihre Sprache, ihre Bildung und den Gang ihrer Ent¬
wickelung von dem russischen Volke geschieden, dessen religiöser Cultus ihnen
etwas Fremdes. Aeußerliches blieb. Ein mächtiger Rückschlag trat ein — schaaren-
^else strömten die Convertiten zu den weltlichen und geistlichen Autoritäten
des Landes, um die Wiederaufnahme in die lutherische Kirche zu erbitten, aber
hartes unerbittliches Gesetz, das trotz der durch die Landcsprivilcgien gesicherten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/223>, abgerufen am 20.10.2024.