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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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ches der kurländische Edelmann (man zählt allein 77 Majoratsbesitzer in Kur¬
land) von dem livländischen verschieden ist. Obgleich der Adel auch in Livlcind
den herrschenden Stand bildet, neben der Stadt Riga allein auf den Landtagen
vertreten ist, obgleich er das ausschließliche Recht zur Besetzung der ländlichen
Richter- und Verwaltungsstellen besitzt und sich einer großen Anzahl anderer
wichtiger Privilegien, z. B. eines privilegirten Gerichtsstandes erfreut, spielt
das Bürgerthum von Alters her in Liv- und Estland eine ungleich größere Rolle
als in dem Herzogthum jenseit der Dura. Der häufigere Wechsel der Herr¬
schaft, die Leiden zahlreicher Kriege, die Einschränkung der adligen Selbstherr-
Uchkcit durch das schwedische Königthum, endlich die Existenz größerer unabhän¬
giger Städte, mit deren Machtstellung gerechnet werden mußte, haben den liv¬
ländischen Adel daran gewöhnt, sich nicht als den einzigen herrschenden Stand
anzusehen. Der Anspruch auf diese Rolle ist zwar niemals völlig aufgegeben
worden, er hat reichlich dazu beigetragen, den ständischen Hader zu schüren --
mit seiner Erfüllung hat es aber immer Schwierigkeiten gehabt. Ein ausschlie߬
liches Recht auf den Besitz von Rittergütern haben die Glieder der livl. Ritter¬
schaft niemals besessen; obgleich es ihnen schon 1710 gelungen war die bezüg¬
lichen Privilegien der Nigaschen Bürger in Frage zu stellen, kostete es einen
jahrzehntlangen harten Kampf, ehe das Bürgerthum völlig ausgeschlossen
wurde und diese Ausschließung mußte mit der Zulassung aller Edelleute zum
Grundbesitz bezahlt werden, d. h. auch solche Personen, welche den Erbadel
im Staatsdienst erworben hallen, aber außerhalb der Ritterschaft standen, durs¬
ten Rittergutsbesitzer werden. Erst 184S bei Gelegenheit der Codchcation des
Provinzialrechts war diese Ordnung der Dinge in Kraft getreten -- schon 1866
leistete die livl. Ritterschaft auf dieselbe Verzicht, indem sie dem Beispiel des
kurländischen Adels folgend den Grundbesitz allen Ständen freigab. Seitdem
hat sich das Verhältniß des Bürgerstandes zum Adel wesentlich gebessert; auf
einen tüchtigen an politische Wirksamkeit und Selbstverwaltung gewöhnten Hand¬
werker- und Kausmannstand gestützt, in seinen Städten völlig unabhängig, durch
den Besitz der Landesumversitat Dorpat zu dem vollen Gefühl seiner
Bedeutung erhoben, durch das mächtige Riga auf den Landtagen reprä-
sentirt, war das livländische Bürgerthum niemals in die isolirte, verbitterte
Stellung deS kurläud>scheu gerathen, ist es ihm in der Neuzeit leicht geworden,
die Nothwendigkeit einer Verständigung mit dem Adel zu begreifen und diesen
in der Vertheidigung der Landesrechte zu unterstützen. Freilich fehlt Edelleuten
und Bürgern dieser Provinz die frische, ursprüngliche Kraft des kurischen We¬
sens, zeigt vor allem der Adel mehr Prätension und weniger aristocratischen
Freisinn als in Kurland -- dieser Mangel wird aber aufgewogen durch eine be¬
wußtere Bildung, durch ein sichereres Verständniß sür die Ansprüche der Zeit,
durch die gereiftere Einsicht in die Nothwendigkeit, an der modernen Eultur


ches der kurländische Edelmann (man zählt allein 77 Majoratsbesitzer in Kur¬
land) von dem livländischen verschieden ist. Obgleich der Adel auch in Livlcind
den herrschenden Stand bildet, neben der Stadt Riga allein auf den Landtagen
vertreten ist, obgleich er das ausschließliche Recht zur Besetzung der ländlichen
Richter- und Verwaltungsstellen besitzt und sich einer großen Anzahl anderer
wichtiger Privilegien, z. B. eines privilegirten Gerichtsstandes erfreut, spielt
das Bürgerthum von Alters her in Liv- und Estland eine ungleich größere Rolle
als in dem Herzogthum jenseit der Dura. Der häufigere Wechsel der Herr¬
schaft, die Leiden zahlreicher Kriege, die Einschränkung der adligen Selbstherr-
Uchkcit durch das schwedische Königthum, endlich die Existenz größerer unabhän¬
giger Städte, mit deren Machtstellung gerechnet werden mußte, haben den liv¬
ländischen Adel daran gewöhnt, sich nicht als den einzigen herrschenden Stand
anzusehen. Der Anspruch auf diese Rolle ist zwar niemals völlig aufgegeben
worden, er hat reichlich dazu beigetragen, den ständischen Hader zu schüren —
mit seiner Erfüllung hat es aber immer Schwierigkeiten gehabt. Ein ausschlie߬
liches Recht auf den Besitz von Rittergütern haben die Glieder der livl. Ritter¬
schaft niemals besessen; obgleich es ihnen schon 1710 gelungen war die bezüg¬
lichen Privilegien der Nigaschen Bürger in Frage zu stellen, kostete es einen
jahrzehntlangen harten Kampf, ehe das Bürgerthum völlig ausgeschlossen
wurde und diese Ausschließung mußte mit der Zulassung aller Edelleute zum
Grundbesitz bezahlt werden, d. h. auch solche Personen, welche den Erbadel
im Staatsdienst erworben hallen, aber außerhalb der Ritterschaft standen, durs¬
ten Rittergutsbesitzer werden. Erst 184S bei Gelegenheit der Codchcation des
Provinzialrechts war diese Ordnung der Dinge in Kraft getreten — schon 1866
leistete die livl. Ritterschaft auf dieselbe Verzicht, indem sie dem Beispiel des
kurländischen Adels folgend den Grundbesitz allen Ständen freigab. Seitdem
hat sich das Verhältniß des Bürgerstandes zum Adel wesentlich gebessert; auf
einen tüchtigen an politische Wirksamkeit und Selbstverwaltung gewöhnten Hand¬
werker- und Kausmannstand gestützt, in seinen Städten völlig unabhängig, durch
den Besitz der Landesumversitat Dorpat zu dem vollen Gefühl seiner
Bedeutung erhoben, durch das mächtige Riga auf den Landtagen reprä-
sentirt, war das livländische Bürgerthum niemals in die isolirte, verbitterte
Stellung deS kurläud>scheu gerathen, ist es ihm in der Neuzeit leicht geworden,
die Nothwendigkeit einer Verständigung mit dem Adel zu begreifen und diesen
in der Vertheidigung der Landesrechte zu unterstützen. Freilich fehlt Edelleuten
und Bürgern dieser Provinz die frische, ursprüngliche Kraft des kurischen We¬
sens, zeigt vor allem der Adel mehr Prätension und weniger aristocratischen
Freisinn als in Kurland — dieser Mangel wird aber aufgewogen durch eine be¬
wußtere Bildung, durch ein sichereres Verständniß sür die Ansprüche der Zeit,
durch die gereiftere Einsicht in die Nothwendigkeit, an der modernen Eultur


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[0222] ches der kurländische Edelmann (man zählt allein 77 Majoratsbesitzer in Kur¬ land) von dem livländischen verschieden ist. Obgleich der Adel auch in Livlcind den herrschenden Stand bildet, neben der Stadt Riga allein auf den Landtagen vertreten ist, obgleich er das ausschließliche Recht zur Besetzung der ländlichen Richter- und Verwaltungsstellen besitzt und sich einer großen Anzahl anderer wichtiger Privilegien, z. B. eines privilegirten Gerichtsstandes erfreut, spielt das Bürgerthum von Alters her in Liv- und Estland eine ungleich größere Rolle als in dem Herzogthum jenseit der Dura. Der häufigere Wechsel der Herr¬ schaft, die Leiden zahlreicher Kriege, die Einschränkung der adligen Selbstherr- Uchkcit durch das schwedische Königthum, endlich die Existenz größerer unabhän¬ giger Städte, mit deren Machtstellung gerechnet werden mußte, haben den liv¬ ländischen Adel daran gewöhnt, sich nicht als den einzigen herrschenden Stand anzusehen. Der Anspruch auf diese Rolle ist zwar niemals völlig aufgegeben worden, er hat reichlich dazu beigetragen, den ständischen Hader zu schüren — mit seiner Erfüllung hat es aber immer Schwierigkeiten gehabt. Ein ausschlie߬ liches Recht auf den Besitz von Rittergütern haben die Glieder der livl. Ritter¬ schaft niemals besessen; obgleich es ihnen schon 1710 gelungen war die bezüg¬ lichen Privilegien der Nigaschen Bürger in Frage zu stellen, kostete es einen jahrzehntlangen harten Kampf, ehe das Bürgerthum völlig ausgeschlossen wurde und diese Ausschließung mußte mit der Zulassung aller Edelleute zum Grundbesitz bezahlt werden, d. h. auch solche Personen, welche den Erbadel im Staatsdienst erworben hallen, aber außerhalb der Ritterschaft standen, durs¬ ten Rittergutsbesitzer werden. Erst 184S bei Gelegenheit der Codchcation des Provinzialrechts war diese Ordnung der Dinge in Kraft getreten — schon 1866 leistete die livl. Ritterschaft auf dieselbe Verzicht, indem sie dem Beispiel des kurländischen Adels folgend den Grundbesitz allen Ständen freigab. Seitdem hat sich das Verhältniß des Bürgerstandes zum Adel wesentlich gebessert; auf einen tüchtigen an politische Wirksamkeit und Selbstverwaltung gewöhnten Hand¬ werker- und Kausmannstand gestützt, in seinen Städten völlig unabhängig, durch den Besitz der Landesumversitat Dorpat zu dem vollen Gefühl seiner Bedeutung erhoben, durch das mächtige Riga auf den Landtagen reprä- sentirt, war das livländische Bürgerthum niemals in die isolirte, verbitterte Stellung deS kurläud>scheu gerathen, ist es ihm in der Neuzeit leicht geworden, die Nothwendigkeit einer Verständigung mit dem Adel zu begreifen und diesen in der Vertheidigung der Landesrechte zu unterstützen. Freilich fehlt Edelleuten und Bürgern dieser Provinz die frische, ursprüngliche Kraft des kurischen We¬ sens, zeigt vor allem der Adel mehr Prätension und weniger aristocratischen Freisinn als in Kurland — dieser Mangel wird aber aufgewogen durch eine be¬ wußtere Bildung, durch ein sichereres Verständniß sür die Ansprüche der Zeit, durch die gereiftere Einsicht in die Nothwendigkeit, an der modernen Eultur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/222>, abgerufen am 20.10.2024.