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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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Grenzen; der Export desselben scheint erst in den letzten Jahren von einiger
Bedeutung geworden zu sein. Dabei mag erwähnt werden, daß es sich als ein
ganz rentables Geschäft herausgestellt hat, unsere fettesten Leckerbissen, die eben
dem Messer verfallen sollten, nicht allein bis Amsterdam zu transportiren, sondern
sie auch noch durch längere Mast in den holländischen Marschen für die Gaumen
der reichen Handelsstadt erst genießbar zu machen, gewiß der sprechendste Beleg
sür die hohe Stufe waldeckscher Volkswirthschaft und zugleich für unsere asketische
Verachtung aller Gourmandise. --

Begreiflich, wie unter solchen Umständen die Situation der Einzelnen ge¬
staltet sein muß: ein im Verhältniß ungeheures ländliches Proletariat, von
winklich nennenswerther Wohlhabenheit nirgends eine Spur. Ob auch hier
und da die "großen" Bauern den Schein einer solchen bewahren, man braucht
nur den Schleier zu lüftend um das Elend auch ihrer Häuser bloßzulegen. Sie
halten sich aufrecht durch die Beibehaltung der Geschlossenheit ihrer Güter.
Da gilt noch der Erstgeborene von vornherein als der künftige Gutsherr; die
übrigen Kinder stehen von frühester Jugend an in gedrücktem Verhältniß.
Leben die Aeltern zu lange, so werden sie "auf Leibzucbt gesetzt" und der
"junge Herr" übernimmt das Gut. Die nachgeborenen Kinder, dem älteren
Bruder gleich dem Gesinde untergeben, fühlen sich zurückgesetzt und hassen den¬
selben. Den jüngeren Söhnen etwa im Gewerbfleiß sich eine selbständige
Stellung suchen zu lassen, bietet sich in der unmittelbaren Nähe wenig, zum
mindesten keine verlockende Gelegenheit; in der Ferne ihr Glück zu versuchen,
haben sie, so lange nicht die bitterste Noth dazu zwingt, keine Lust oder keinen
Muth; sie bleiben daheim, faullenzen und intriguiren gegen den glücklicheren
Bruder. Die Folgen für die Wirthschaft sind selbstverständlich. Und kommt
es wirklich dazu, daß der Anerbe den übrigen Gulskmdern die gesetzlich vor¬
geschriebene Abfindung auszahlt, so ist dieselbe gewöhnlich von so geringem
Betrage, daß die Abgefundenen nur den höheren oder niederen Stufen des
großen Proletariats neuen Zuwachs zuführen, ein Resultat, welches schwerlich
durchgreifend zu ändern wäre, wenn das gesammte Gut in gleiche Theile zer¬
schlagen würde.

Die übergroße Verschuldung des Bodens ist es, die hier ihre Wirkung
thut. Sie, im Verein mit dem schlechten Zustande des Hypothekenwesens, hat
ohnehin die Kreditfähigkeit unseres Bauernstandes gründlich verdorben,-- und
darin liegt der gefährlichste Uebelstand. Was Wunder, wenn der bedrängte
Landmann jede beliebige Hilfe erfaßt? N ehe genug, daß er zu Mitteln greift,
die einer gedeihlichen Entwickelung schnurstracks zuwiderlaufen -- scheint doch
der Verkauf auf Wicdcrtauf, eine Form des Mittelalterlichen Weddcschatcs, noch
vorzukommen --, nein, er wird ohne Rettung dem gewissenlosesten Wucher in
die Arme getrieben. Die noch bestehenden Wuchergesetze können die Erpresser


Grenzboten II. 1867. 8

Grenzen; der Export desselben scheint erst in den letzten Jahren von einiger
Bedeutung geworden zu sein. Dabei mag erwähnt werden, daß es sich als ein
ganz rentables Geschäft herausgestellt hat, unsere fettesten Leckerbissen, die eben
dem Messer verfallen sollten, nicht allein bis Amsterdam zu transportiren, sondern
sie auch noch durch längere Mast in den holländischen Marschen für die Gaumen
der reichen Handelsstadt erst genießbar zu machen, gewiß der sprechendste Beleg
sür die hohe Stufe waldeckscher Volkswirthschaft und zugleich für unsere asketische
Verachtung aller Gourmandise. —

Begreiflich, wie unter solchen Umständen die Situation der Einzelnen ge¬
staltet sein muß: ein im Verhältniß ungeheures ländliches Proletariat, von
winklich nennenswerther Wohlhabenheit nirgends eine Spur. Ob auch hier
und da die „großen" Bauern den Schein einer solchen bewahren, man braucht
nur den Schleier zu lüftend um das Elend auch ihrer Häuser bloßzulegen. Sie
halten sich aufrecht durch die Beibehaltung der Geschlossenheit ihrer Güter.
Da gilt noch der Erstgeborene von vornherein als der künftige Gutsherr; die
übrigen Kinder stehen von frühester Jugend an in gedrücktem Verhältniß.
Leben die Aeltern zu lange, so werden sie „auf Leibzucbt gesetzt" und der
„junge Herr" übernimmt das Gut. Die nachgeborenen Kinder, dem älteren
Bruder gleich dem Gesinde untergeben, fühlen sich zurückgesetzt und hassen den¬
selben. Den jüngeren Söhnen etwa im Gewerbfleiß sich eine selbständige
Stellung suchen zu lassen, bietet sich in der unmittelbaren Nähe wenig, zum
mindesten keine verlockende Gelegenheit; in der Ferne ihr Glück zu versuchen,
haben sie, so lange nicht die bitterste Noth dazu zwingt, keine Lust oder keinen
Muth; sie bleiben daheim, faullenzen und intriguiren gegen den glücklicheren
Bruder. Die Folgen für die Wirthschaft sind selbstverständlich. Und kommt
es wirklich dazu, daß der Anerbe den übrigen Gulskmdern die gesetzlich vor¬
geschriebene Abfindung auszahlt, so ist dieselbe gewöhnlich von so geringem
Betrage, daß die Abgefundenen nur den höheren oder niederen Stufen des
großen Proletariats neuen Zuwachs zuführen, ein Resultat, welches schwerlich
durchgreifend zu ändern wäre, wenn das gesammte Gut in gleiche Theile zer¬
schlagen würde.

Die übergroße Verschuldung des Bodens ist es, die hier ihre Wirkung
thut. Sie, im Verein mit dem schlechten Zustande des Hypothekenwesens, hat
ohnehin die Kreditfähigkeit unseres Bauernstandes gründlich verdorben,— und
darin liegt der gefährlichste Uebelstand. Was Wunder, wenn der bedrängte
Landmann jede beliebige Hilfe erfaßt? N ehe genug, daß er zu Mitteln greift,
die einer gedeihlichen Entwickelung schnurstracks zuwiderlaufen — scheint doch
der Verkauf auf Wicdcrtauf, eine Form des Mittelalterlichen Weddcschatcs, noch
vorzukommen —, nein, er wird ohne Rettung dem gewissenlosesten Wucher in
die Arme getrieben. Die noch bestehenden Wuchergesetze können die Erpresser


Grenzboten II. 1867. 8
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/61>, abgerufen am 24.08.2024.