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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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letzten Bächlein, das nach Norden dem Bregenzerwalde zufließt, wusch ich den
von dort noch angetragenen Staub von den Stiefeln, -- dann ein Gruß an
Mutter und Kinder und alle Treuen -- jetzt ein Sprung und ich hatte den
letzten Berg meiner Heimath aus dem Auge verloren.

Da unten hatte schon der Frühling seine schönsten Feste zu feiern begonnen.
Zum ersten Mal in diesem Jahre hörte ich im frisch ergrünten Buchenwäldchen
am Fuße des vielköpfigen Felsens den Kukuksruf, der mir heute ganz eigen
wehmüthig vorkam. Auf einem Hügelchen zwischen Schnee und duftenden
Blüthen, zwischen Wasserrauschen und dem Gekrach zusammenstürzender Lawinen
setzten wir uns ins weiche Gras.

Allerlei trübe Gedanken wollten uns beschleichen. da fiel mir plötzlich meine
Pfeife ein. "In allen Lebenslagen muß man vorher eine Handvoll Tabak ver¬
dampfen und dann erst urtheilen." Indem ich in der Tasche nach Zündhölz¬
chen suchte, kam mir ein Briefchen in die Hände, das ich in der Aufregung der
letzten Nacht uneröffnet eingesteckt hatte. Jetzt eröffnete es Nanni und las das
Gedicht "einer Einsamen in Straßburg an das bregenzer Bäuerlein". "Da
ist ja der Geist unseres Jahrhunderts!" rief sie. "Freund Hildebrand hat in
der Gartenlaube von dir erzählt, und das Echo dieses Rufes kommt nun aus
dem Elsaß herüber bis auf diese öden Höhen, um uns vertriebene Flüchtlinge zu
trösten und zu erfreuen." Und wir waren wirklich getröstet und erfreut. Lang
antworteten die ernsten Berge meinem fröhlichen Jauchzen, während aus den
blühenden Baumwäldern herauf das tausendstimmige Lied der Vögel sich in den
Jubelruf mischte.

Schneller eilten wir hinab und dem ersten Wirthshause zu. wo wir nach
der fünfstündigen Wanderung wenigstens einen erquickenden Trunk zu finden
hofften. Der vor dem Hause aufgerichtete schlanke Tannenbaum verkündete, daß
dasselbe dem Ortsvorsteher gehöre. Zufällig war er eben daheim. Ich bat ihn
um die neuesten Zeitungen.

"Zeitungen?" frug er verächtlich. "Euch hört man wieder einmal den
Bregenzerwälder gehörig an. Unsere Leute sind schon klüger und mögen ihr
gutes Geld nicht für derlei verlogenes unchristliches Zeug hinwegwersen. In
meiner ganzen Gemeinde hält sich kein Mensch eine Zeitung."

"So einen Mann," sagte das Wible. als wir die düstere Behausung ver¬
lassen hatten, "könnte man im Bregenzerwalde denn doch zum Vorsteher einer
ganzen Gemeinde unmöglich brauchen."

"Ja." sagte ich nicht ohne Stolz. "Weiter als diese Walliser sind wir
allerdings. Mögen Einzelne machen was sie wollen, unvergleichlich mehr Leben
und mehr Sinn für die Zeitfragen haben doch meine Landsleute im Allgemeinen;
darum aber eben igs drunten aus mit dem alten heiligen Frieden, und drum
befinde ich mich jetzt auf der Flucht."


letzten Bächlein, das nach Norden dem Bregenzerwalde zufließt, wusch ich den
von dort noch angetragenen Staub von den Stiefeln, — dann ein Gruß an
Mutter und Kinder und alle Treuen — jetzt ein Sprung und ich hatte den
letzten Berg meiner Heimath aus dem Auge verloren.

Da unten hatte schon der Frühling seine schönsten Feste zu feiern begonnen.
Zum ersten Mal in diesem Jahre hörte ich im frisch ergrünten Buchenwäldchen
am Fuße des vielköpfigen Felsens den Kukuksruf, der mir heute ganz eigen
wehmüthig vorkam. Auf einem Hügelchen zwischen Schnee und duftenden
Blüthen, zwischen Wasserrauschen und dem Gekrach zusammenstürzender Lawinen
setzten wir uns ins weiche Gras.

Allerlei trübe Gedanken wollten uns beschleichen. da fiel mir plötzlich meine
Pfeife ein. „In allen Lebenslagen muß man vorher eine Handvoll Tabak ver¬
dampfen und dann erst urtheilen." Indem ich in der Tasche nach Zündhölz¬
chen suchte, kam mir ein Briefchen in die Hände, das ich in der Aufregung der
letzten Nacht uneröffnet eingesteckt hatte. Jetzt eröffnete es Nanni und las das
Gedicht „einer Einsamen in Straßburg an das bregenzer Bäuerlein". „Da
ist ja der Geist unseres Jahrhunderts!" rief sie. „Freund Hildebrand hat in
der Gartenlaube von dir erzählt, und das Echo dieses Rufes kommt nun aus
dem Elsaß herüber bis auf diese öden Höhen, um uns vertriebene Flüchtlinge zu
trösten und zu erfreuen." Und wir waren wirklich getröstet und erfreut. Lang
antworteten die ernsten Berge meinem fröhlichen Jauchzen, während aus den
blühenden Baumwäldern herauf das tausendstimmige Lied der Vögel sich in den
Jubelruf mischte.

Schneller eilten wir hinab und dem ersten Wirthshause zu. wo wir nach
der fünfstündigen Wanderung wenigstens einen erquickenden Trunk zu finden
hofften. Der vor dem Hause aufgerichtete schlanke Tannenbaum verkündete, daß
dasselbe dem Ortsvorsteher gehöre. Zufällig war er eben daheim. Ich bat ihn
um die neuesten Zeitungen.

„Zeitungen?" frug er verächtlich. „Euch hört man wieder einmal den
Bregenzerwälder gehörig an. Unsere Leute sind schon klüger und mögen ihr
gutes Geld nicht für derlei verlogenes unchristliches Zeug hinwegwersen. In
meiner ganzen Gemeinde hält sich kein Mensch eine Zeitung."

„So einen Mann," sagte das Wible. als wir die düstere Behausung ver¬
lassen hatten, „könnte man im Bregenzerwalde denn doch zum Vorsteher einer
ganzen Gemeinde unmöglich brauchen."

„Ja." sagte ich nicht ohne Stolz. „Weiter als diese Walliser sind wir
allerdings. Mögen Einzelne machen was sie wollen, unvergleichlich mehr Leben
und mehr Sinn für die Zeitfragen haben doch meine Landsleute im Allgemeinen;
darum aber eben igs drunten aus mit dem alten heiligen Frieden, und drum
befinde ich mich jetzt auf der Flucht."


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[0508] letzten Bächlein, das nach Norden dem Bregenzerwalde zufließt, wusch ich den von dort noch angetragenen Staub von den Stiefeln, — dann ein Gruß an Mutter und Kinder und alle Treuen — jetzt ein Sprung und ich hatte den letzten Berg meiner Heimath aus dem Auge verloren. Da unten hatte schon der Frühling seine schönsten Feste zu feiern begonnen. Zum ersten Mal in diesem Jahre hörte ich im frisch ergrünten Buchenwäldchen am Fuße des vielköpfigen Felsens den Kukuksruf, der mir heute ganz eigen wehmüthig vorkam. Auf einem Hügelchen zwischen Schnee und duftenden Blüthen, zwischen Wasserrauschen und dem Gekrach zusammenstürzender Lawinen setzten wir uns ins weiche Gras. Allerlei trübe Gedanken wollten uns beschleichen. da fiel mir plötzlich meine Pfeife ein. „In allen Lebenslagen muß man vorher eine Handvoll Tabak ver¬ dampfen und dann erst urtheilen." Indem ich in der Tasche nach Zündhölz¬ chen suchte, kam mir ein Briefchen in die Hände, das ich in der Aufregung der letzten Nacht uneröffnet eingesteckt hatte. Jetzt eröffnete es Nanni und las das Gedicht „einer Einsamen in Straßburg an das bregenzer Bäuerlein". „Da ist ja der Geist unseres Jahrhunderts!" rief sie. „Freund Hildebrand hat in der Gartenlaube von dir erzählt, und das Echo dieses Rufes kommt nun aus dem Elsaß herüber bis auf diese öden Höhen, um uns vertriebene Flüchtlinge zu trösten und zu erfreuen." Und wir waren wirklich getröstet und erfreut. Lang antworteten die ernsten Berge meinem fröhlichen Jauchzen, während aus den blühenden Baumwäldern herauf das tausendstimmige Lied der Vögel sich in den Jubelruf mischte. Schneller eilten wir hinab und dem ersten Wirthshause zu. wo wir nach der fünfstündigen Wanderung wenigstens einen erquickenden Trunk zu finden hofften. Der vor dem Hause aufgerichtete schlanke Tannenbaum verkündete, daß dasselbe dem Ortsvorsteher gehöre. Zufällig war er eben daheim. Ich bat ihn um die neuesten Zeitungen. „Zeitungen?" frug er verächtlich. „Euch hört man wieder einmal den Bregenzerwälder gehörig an. Unsere Leute sind schon klüger und mögen ihr gutes Geld nicht für derlei verlogenes unchristliches Zeug hinwegwersen. In meiner ganzen Gemeinde hält sich kein Mensch eine Zeitung." „So einen Mann," sagte das Wible. als wir die düstere Behausung ver¬ lassen hatten, „könnte man im Bregenzerwalde denn doch zum Vorsteher einer ganzen Gemeinde unmöglich brauchen." „Ja." sagte ich nicht ohne Stolz. „Weiter als diese Walliser sind wir allerdings. Mögen Einzelne machen was sie wollen, unvergleichlich mehr Leben und mehr Sinn für die Zeitfragen haben doch meine Landsleute im Allgemeinen; darum aber eben igs drunten aus mit dem alten heiligen Frieden, und drum befinde ich mich jetzt auf der Flucht."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/508>, abgerufen am 26.06.2024.