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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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"Wahrheit" und alles, was davon abweicht, für Lüge zu halten. Ebensowenig
erklären wir jeden, der sich erlaubt, von unserer Ansicht über irgendeine Frage
abzuweichen, prima taeis für einen Lügner, Schurken und Renegaten. Ange¬
sichts der Ereignisse des Jahres 1866 finden wir die Nothwendigkeit einer neuen
Parteibildung sehr begreiflich. Wo wir Hinblicken, sehen wir die Parteien, die
conservativen ebensogut wie die liberalen, in Auflösung, Gährung, Zersetzung
Oder glauben Sie nicht, daß der alle Herr von Gevlach viel unzufriedener
mit der conservativen Partei ist. als Sie mit den Liberalen? Warum also
einander gegenseitig schmähen und verdächtigen? Ist nicht Ihre eigene Fraction
unter sich weit uneiniger als irgendeine andere? Und ziemt es ihr deshalb,
sich für die einzige Vewahrerin und Erbbeständerin des vestalischen Feuers des
Fortschritts auszugeben?

Ich fürchte, durch jene yuerelles s-IIemanäes liefern wir höchstens den Beweis^
daß wir noch lange keine Politiker, sondern noch immer jene "Privatmenschen"
des siebenzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts find, welche ihre Zeit mit
theologischen und scholastischen Klopffechtereien, mit den subtilsten juristischen
Untersuchungen hinbrachten, welche auch später bei ernstem und großartigem
gelehrten Forschen und edler Pflege der Dichtkunst immer noch dem wirklichen
Leben und seinen Forderungen abgewandt blieben. Noch jetzt befängt uns jene
Zeit der großen Theorien und der elenden kleinlichen verkrüppelten Wirklichkeit,
wenn wir nicht begreifen lernen, daß die Methode der philosophischen Specu-
lation und jeder andern gelehrten Forschung unanwendbar ist auf Fragen der
praktischen Politik, daß in der letzteren eine That mehr ist als hundert
Gedanken/und ein Erfolg mehr als das konsequenteste und sattelfesteste
Dogma.

An einer wissenschaftlichen Wahrheit, an einer religiösen Ueberzeugung, an
einem bewährten Freund festhalten, selbst auf die Gefahr .hin, es koste Kopf
und Kragen, das ist Consequenz. Aber in der praktischen Politik im Sommer
1867 denselben Weg einschlagen zu wollen, wie 1866, obgleich zwischenzeitig
die Fluth Weg und Steg weggerissen und in den Abgrund geschleudert hat,
und obgleich zwischenzeitig ein energischer Ingenieur einen neuen Weg gebaut
hat, der schneller und bequemer zum Ziele führt, das nenne ich Donquixoterie;
und dieser Name ist noch viel zu schonend, wenn man dabei nicht nur auf
Kosten seiner eigenen Person und seiner eigenen Partei handelt, sondern den
Staat, das Vaterland, die Nation in Gefahr bringt.

Mag der fanatisirte scholastisch-theologische Ketzerrichter rufen: "Wenn auch
Euer Leib brennt, ich rette Euch die Seele und das Jenseits", mag der Jurist
sagen: ^justitig., pereat inuuäus, der Politiker, dessen Händen das Wohl
und Wehe von Millionen und die Zukunft des Vaterlandes anvertraut ist, der
darf nicht sprechen: ?lat eovseyuentia wea mvro xersonalis, xeroat xatrjal


„Wahrheit" und alles, was davon abweicht, für Lüge zu halten. Ebensowenig
erklären wir jeden, der sich erlaubt, von unserer Ansicht über irgendeine Frage
abzuweichen, prima taeis für einen Lügner, Schurken und Renegaten. Ange¬
sichts der Ereignisse des Jahres 1866 finden wir die Nothwendigkeit einer neuen
Parteibildung sehr begreiflich. Wo wir Hinblicken, sehen wir die Parteien, die
conservativen ebensogut wie die liberalen, in Auflösung, Gährung, Zersetzung
Oder glauben Sie nicht, daß der alle Herr von Gevlach viel unzufriedener
mit der conservativen Partei ist. als Sie mit den Liberalen? Warum also
einander gegenseitig schmähen und verdächtigen? Ist nicht Ihre eigene Fraction
unter sich weit uneiniger als irgendeine andere? Und ziemt es ihr deshalb,
sich für die einzige Vewahrerin und Erbbeständerin des vestalischen Feuers des
Fortschritts auszugeben?

Ich fürchte, durch jene yuerelles s-IIemanäes liefern wir höchstens den Beweis^
daß wir noch lange keine Politiker, sondern noch immer jene „Privatmenschen"
des siebenzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts find, welche ihre Zeit mit
theologischen und scholastischen Klopffechtereien, mit den subtilsten juristischen
Untersuchungen hinbrachten, welche auch später bei ernstem und großartigem
gelehrten Forschen und edler Pflege der Dichtkunst immer noch dem wirklichen
Leben und seinen Forderungen abgewandt blieben. Noch jetzt befängt uns jene
Zeit der großen Theorien und der elenden kleinlichen verkrüppelten Wirklichkeit,
wenn wir nicht begreifen lernen, daß die Methode der philosophischen Specu-
lation und jeder andern gelehrten Forschung unanwendbar ist auf Fragen der
praktischen Politik, daß in der letzteren eine That mehr ist als hundert
Gedanken/und ein Erfolg mehr als das konsequenteste und sattelfesteste
Dogma.

An einer wissenschaftlichen Wahrheit, an einer religiösen Ueberzeugung, an
einem bewährten Freund festhalten, selbst auf die Gefahr .hin, es koste Kopf
und Kragen, das ist Consequenz. Aber in der praktischen Politik im Sommer
1867 denselben Weg einschlagen zu wollen, wie 1866, obgleich zwischenzeitig
die Fluth Weg und Steg weggerissen und in den Abgrund geschleudert hat,
und obgleich zwischenzeitig ein energischer Ingenieur einen neuen Weg gebaut
hat, der schneller und bequemer zum Ziele führt, das nenne ich Donquixoterie;
und dieser Name ist noch viel zu schonend, wenn man dabei nicht nur auf
Kosten seiner eigenen Person und seiner eigenen Partei handelt, sondern den
Staat, das Vaterland, die Nation in Gefahr bringt.

Mag der fanatisirte scholastisch-theologische Ketzerrichter rufen: „Wenn auch
Euer Leib brennt, ich rette Euch die Seele und das Jenseits", mag der Jurist
sagen: ^justitig., pereat inuuäus, der Politiker, dessen Händen das Wohl
und Wehe von Millionen und die Zukunft des Vaterlandes anvertraut ist, der
darf nicht sprechen: ?lat eovseyuentia wea mvro xersonalis, xeroat xatrjal


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[0474] „Wahrheit" und alles, was davon abweicht, für Lüge zu halten. Ebensowenig erklären wir jeden, der sich erlaubt, von unserer Ansicht über irgendeine Frage abzuweichen, prima taeis für einen Lügner, Schurken und Renegaten. Ange¬ sichts der Ereignisse des Jahres 1866 finden wir die Nothwendigkeit einer neuen Parteibildung sehr begreiflich. Wo wir Hinblicken, sehen wir die Parteien, die conservativen ebensogut wie die liberalen, in Auflösung, Gährung, Zersetzung Oder glauben Sie nicht, daß der alle Herr von Gevlach viel unzufriedener mit der conservativen Partei ist. als Sie mit den Liberalen? Warum also einander gegenseitig schmähen und verdächtigen? Ist nicht Ihre eigene Fraction unter sich weit uneiniger als irgendeine andere? Und ziemt es ihr deshalb, sich für die einzige Vewahrerin und Erbbeständerin des vestalischen Feuers des Fortschritts auszugeben? Ich fürchte, durch jene yuerelles s-IIemanäes liefern wir höchstens den Beweis^ daß wir noch lange keine Politiker, sondern noch immer jene „Privatmenschen" des siebenzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts find, welche ihre Zeit mit theologischen und scholastischen Klopffechtereien, mit den subtilsten juristischen Untersuchungen hinbrachten, welche auch später bei ernstem und großartigem gelehrten Forschen und edler Pflege der Dichtkunst immer noch dem wirklichen Leben und seinen Forderungen abgewandt blieben. Noch jetzt befängt uns jene Zeit der großen Theorien und der elenden kleinlichen verkrüppelten Wirklichkeit, wenn wir nicht begreifen lernen, daß die Methode der philosophischen Specu- lation und jeder andern gelehrten Forschung unanwendbar ist auf Fragen der praktischen Politik, daß in der letzteren eine That mehr ist als hundert Gedanken/und ein Erfolg mehr als das konsequenteste und sattelfesteste Dogma. An einer wissenschaftlichen Wahrheit, an einer religiösen Ueberzeugung, an einem bewährten Freund festhalten, selbst auf die Gefahr .hin, es koste Kopf und Kragen, das ist Consequenz. Aber in der praktischen Politik im Sommer 1867 denselben Weg einschlagen zu wollen, wie 1866, obgleich zwischenzeitig die Fluth Weg und Steg weggerissen und in den Abgrund geschleudert hat, und obgleich zwischenzeitig ein energischer Ingenieur einen neuen Weg gebaut hat, der schneller und bequemer zum Ziele führt, das nenne ich Donquixoterie; und dieser Name ist noch viel zu schonend, wenn man dabei nicht nur auf Kosten seiner eigenen Person und seiner eigenen Partei handelt, sondern den Staat, das Vaterland, die Nation in Gefahr bringt. Mag der fanatisirte scholastisch-theologische Ketzerrichter rufen: „Wenn auch Euer Leib brennt, ich rette Euch die Seele und das Jenseits", mag der Jurist sagen: ^justitig., pereat inuuäus, der Politiker, dessen Händen das Wohl und Wehe von Millionen und die Zukunft des Vaterlandes anvertraut ist, der darf nicht sprechen: ?lat eovseyuentia wea mvro xersonalis, xeroat xatrjal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/474>, abgerufen am 05.02.2025.