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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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derselben nicht berührt sind. Die Blouse wird uns retten. Sie halten das
für Phantasterei? Ich sage Ihnen: es ist die nüchternste Wahrheit. Die
französischen Arbeiter sind seit 18 Jahren wunderbar vorgeschritten. Sie sind
die Lernbegieriger, sie sind die eifrig Suchenden und Lesende"; sie studiren mit
dem Fleiße der besten Schulknaben. Ueber ihnen freilich verrotten die Volks¬
schichten. Mögen sie verrotten. Es keimt eine Saat, die nur um so üppiger
in die Höhe schießen wird." -- "Und wo wnd diese Revolution still stehen?"
fragte ich wißbegierig. -- "Gewiß nicht vor den Altären," hieß die Antwort;
"mit dem Christenthum wird sie gründlichst aufräumen." -- "Oho! -- und
die Familie?" -- ,A ig, domus Ireure! die Familie wird der Haupteckstein des
neuen Gebäudes sein."

Ich war neugierig, sein Urtheil über Louis Napoleon zu hören und die
Rolle kennen zu lernen, welche die Socialisten diesem bei der erwarteten Um¬
wälzung zutrauten. Er wollte indessen mit seinen letzten Gedanken darüber
nicht heraus. Nur bekannte er sich zu einer unbedingten Bewunderung des
Kaisers. Niemand vor Louis Napoleon habe so viel wie er für den Socialis¬
mus gethan. Niemand seiner kleinen Widersacher reiche nur entfernt an ihn
heran. So weit mein Socialist.

Ich möchte allerdings der Meinung beistimmen, daß die Bemühungen
einiger bekannter französischer Arbeitecsreundc in der angedeuteten Richtung gute-
Früchte getragen haben. Mehr oder weniger haben die französischen Arbeiter
von den in Deutschland und England zur Herrschaft gekommenen Ideen über
Freihandel, Genossenschaftswesen, Werth der Arbeiterbildung Kenntniß gewonnen.
Die alten pariser Schlagworte haben ihren Zauber verloren. Daß aber in
Frankreich der Socialismus sich nicht ausschließlich mit dem Arbeitsthema
befaßt, ist immer ein bedenkliches Zeichen. Der "Siöcle" hat ohnlängst eine
Volksausgabe des Voltaire veranstaltet. Diese Thatsache wirft auf die
eigenthümliche Disposition der französische" Zustände el" scharfes Schlaglicht.

Dasselbe Thema habe ich in Paris viel-ältig variiren gehört. Die Einen
prophezeiten eine baldige Umwälzung zu Gunsten der Orleans, die Andern
einen Umsturz alles Bestehenden mit unabsehbarem Ende. Daß ganz Europa
von dem Brande mit ergriffen werden würde, war so ziemlich die Meinung
Aller. Aber dahinter steckt natürlich ein gut Theil französischer Eitelkeit. Auf¬
fallend aber erscheint im Gegensatz zu dem Jahre 1860 und den damals in
Paris gemachten Beobachtungen die jetzige Verstimmung der besitzende" Classen.
Auch damals hofften die anspruchsvoll Gebildeten auf eine Wiederkehr der or-
lcansschen Zeiten mit ihren Juste-milieu-Institutionen, aber die Finanz- und
Handelswelt schwur bei dem Spitzbarte des Kaisers. Er hatte den Drachen
des Pcutcitteibcnö zu Boden getreten; er hatte den Abgrund der Ncvolntiv"
geschlossen. --


derselben nicht berührt sind. Die Blouse wird uns retten. Sie halten das
für Phantasterei? Ich sage Ihnen: es ist die nüchternste Wahrheit. Die
französischen Arbeiter sind seit 18 Jahren wunderbar vorgeschritten. Sie sind
die Lernbegieriger, sie sind die eifrig Suchenden und Lesende»; sie studiren mit
dem Fleiße der besten Schulknaben. Ueber ihnen freilich verrotten die Volks¬
schichten. Mögen sie verrotten. Es keimt eine Saat, die nur um so üppiger
in die Höhe schießen wird." — „Und wo wnd diese Revolution still stehen?"
fragte ich wißbegierig. — „Gewiß nicht vor den Altären," hieß die Antwort;
„mit dem Christenthum wird sie gründlichst aufräumen." — „Oho! — und
die Familie?" — ,A ig, domus Ireure! die Familie wird der Haupteckstein des
neuen Gebäudes sein."

Ich war neugierig, sein Urtheil über Louis Napoleon zu hören und die
Rolle kennen zu lernen, welche die Socialisten diesem bei der erwarteten Um¬
wälzung zutrauten. Er wollte indessen mit seinen letzten Gedanken darüber
nicht heraus. Nur bekannte er sich zu einer unbedingten Bewunderung des
Kaisers. Niemand vor Louis Napoleon habe so viel wie er für den Socialis¬
mus gethan. Niemand seiner kleinen Widersacher reiche nur entfernt an ihn
heran. So weit mein Socialist.

Ich möchte allerdings der Meinung beistimmen, daß die Bemühungen
einiger bekannter französischer Arbeitecsreundc in der angedeuteten Richtung gute-
Früchte getragen haben. Mehr oder weniger haben die französischen Arbeiter
von den in Deutschland und England zur Herrschaft gekommenen Ideen über
Freihandel, Genossenschaftswesen, Werth der Arbeiterbildung Kenntniß gewonnen.
Die alten pariser Schlagworte haben ihren Zauber verloren. Daß aber in
Frankreich der Socialismus sich nicht ausschließlich mit dem Arbeitsthema
befaßt, ist immer ein bedenkliches Zeichen. Der „Siöcle" hat ohnlängst eine
Volksausgabe des Voltaire veranstaltet. Diese Thatsache wirft auf die
eigenthümliche Disposition der französische» Zustände el» scharfes Schlaglicht.

Dasselbe Thema habe ich in Paris viel-ältig variiren gehört. Die Einen
prophezeiten eine baldige Umwälzung zu Gunsten der Orleans, die Andern
einen Umsturz alles Bestehenden mit unabsehbarem Ende. Daß ganz Europa
von dem Brande mit ergriffen werden würde, war so ziemlich die Meinung
Aller. Aber dahinter steckt natürlich ein gut Theil französischer Eitelkeit. Auf¬
fallend aber erscheint im Gegensatz zu dem Jahre 1860 und den damals in
Paris gemachten Beobachtungen die jetzige Verstimmung der besitzende» Classen.
Auch damals hofften die anspruchsvoll Gebildeten auf eine Wiederkehr der or-
lcansschen Zeiten mit ihren Juste-milieu-Institutionen, aber die Finanz- und
Handelswelt schwur bei dem Spitzbarte des Kaisers. Er hatte den Drachen
des Pcutcitteibcnö zu Boden getreten; er hatte den Abgrund der Ncvolntiv»
geschlossen. —


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/346>, abgerufen am 22.07.2024.