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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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erfahren, als was sich den Briefen und Aufzeichnungen der großen Literatur-
sürsten entnehmen läßt -- deren Ausnahmsstellung uns gegen die Einseitigkeit
ihrer Stellung zu Zeit und Zeitgenossen übrigens ni^t verblenden darf --, der
wird den großen Fortschritt, den die öffentliche Sittlichkeit unseres Volks seit
den letzten sechzig Jahren gemacht hat, nicht leugnen können und einräumen
müssen, daß dieselbe mit der zeitweisen Verdunkelung künstlerischer Interessen
nicht zu theuer bezahlt worden sind. Wie es mit der großen Masse sititicher
Anschauungen vor fünfzig und sechzig Jahren bestellt war, davon kann man
eine lebhafte Vorstellung gewinnen, wenn man sich zu der Bekanntschaft mit
ihren Chorführern, jenen Repräsentanten des Tagesgeschmacks und der ni-ctsvimt,
öffentlichen Meinung herbeiläßt, die in der Regel mit der Erinnerung daran,
daß sie beschränkt genug gewesen, um Schiller und Goethe nicht zu verstehen,
abgethan werden.

In der Absicht, einen culturgeschichtlichen Beitrag zur Charakteristik des
sittlichen, ästhetischen und intellectuellen Bildungsstandpunktes ein der Wende des
Jahrhunderts zu liefern, theilen wir in den folgenden Heften eine Sammlung
deutscher Schrift stellerbriefe mit. Sie sollen insbesondere jenes "andere
Lager" charat'terisuen, von dem wir oben handelten, denn sie kommen aus dem
Nachlaß eines Mannes, der seiner Zeit im Mittelpunkt des literarischen Treibens in
Deutschland gestanden hat, heute aber nur noch wegen der üblen Rolle genannt
wild, die er in dem Kampf gegen Goethe und gegen die Romantiker gespielt
hat -- aus der Hinterlassenschaft Garlieb Merkels. Dieser Schriftsteller
gehört der großen Zahl derer an, die bei einer tüchtigen Begabung für das
wirkliche Leben an der Nothwendigkeit zu Grunde gingen, sich auf einem Ge¬
biete zu bethätigen, für das sie nicht geschaffen waren, die in jeder anderen
Zeit als der der Abwendung von allen politischen und vaterländischen Inter¬
essen eine ehrenvolle Rolle gespielt hätten. Unterschieden von zahlreichen seiner
Zeitgenossen ist er aber dadurch, daß er wirklich ein hervorragender
Publicist war, dessen Verdienste um die deutsche Sache längst vergessen sind,
von dessen verfehlten kritisch-ästhetischen Bestrebungen aber jedes Kind etwas
gehört hat, weil er in einer Zeit lebte, in welcher der Werth des der Oeffent-
lichkeit angehörenden Mannes in erster Reese nach dessen ästhetischer Geschmacks¬
richtung beurtheilt wurde. Garlieb Merkel, der sich nicht nur um die Aufhebung
der Leibeigenscha>t in Liv-, Esth- und Kurland hohe Verdienste erwogen hat,
der zu der kleinen Schaar derer gehörie, die schon im Jahre 1806 zur Erhebung
gegen Napoleon ausriefen, der noch vor der Schlacht von Jena die Nothwen¬
digkeit einer NationaKrhebung gegen die Franzosen predigte und diese als
die einzige Rettung vor dem hereinbrechenden Jammer bezeichnete, der in
erster Reihe ein politischer Schriftsteller war, ist auch dem Deutschland
Von 1867 nur noch der Mann, der "gegen Goethe geschrieben". Keine der


erfahren, als was sich den Briefen und Aufzeichnungen der großen Literatur-
sürsten entnehmen läßt — deren Ausnahmsstellung uns gegen die Einseitigkeit
ihrer Stellung zu Zeit und Zeitgenossen übrigens ni^t verblenden darf —, der
wird den großen Fortschritt, den die öffentliche Sittlichkeit unseres Volks seit
den letzten sechzig Jahren gemacht hat, nicht leugnen können und einräumen
müssen, daß dieselbe mit der zeitweisen Verdunkelung künstlerischer Interessen
nicht zu theuer bezahlt worden sind. Wie es mit der großen Masse sititicher
Anschauungen vor fünfzig und sechzig Jahren bestellt war, davon kann man
eine lebhafte Vorstellung gewinnen, wenn man sich zu der Bekanntschaft mit
ihren Chorführern, jenen Repräsentanten des Tagesgeschmacks und der ni-ctsvimt,
öffentlichen Meinung herbeiläßt, die in der Regel mit der Erinnerung daran,
daß sie beschränkt genug gewesen, um Schiller und Goethe nicht zu verstehen,
abgethan werden.

In der Absicht, einen culturgeschichtlichen Beitrag zur Charakteristik des
sittlichen, ästhetischen und intellectuellen Bildungsstandpunktes ein der Wende des
Jahrhunderts zu liefern, theilen wir in den folgenden Heften eine Sammlung
deutscher Schrift stellerbriefe mit. Sie sollen insbesondere jenes „andere
Lager" charat'terisuen, von dem wir oben handelten, denn sie kommen aus dem
Nachlaß eines Mannes, der seiner Zeit im Mittelpunkt des literarischen Treibens in
Deutschland gestanden hat, heute aber nur noch wegen der üblen Rolle genannt
wild, die er in dem Kampf gegen Goethe und gegen die Romantiker gespielt
hat — aus der Hinterlassenschaft Garlieb Merkels. Dieser Schriftsteller
gehört der großen Zahl derer an, die bei einer tüchtigen Begabung für das
wirkliche Leben an der Nothwendigkeit zu Grunde gingen, sich auf einem Ge¬
biete zu bethätigen, für das sie nicht geschaffen waren, die in jeder anderen
Zeit als der der Abwendung von allen politischen und vaterländischen Inter¬
essen eine ehrenvolle Rolle gespielt hätten. Unterschieden von zahlreichen seiner
Zeitgenossen ist er aber dadurch, daß er wirklich ein hervorragender
Publicist war, dessen Verdienste um die deutsche Sache längst vergessen sind,
von dessen verfehlten kritisch-ästhetischen Bestrebungen aber jedes Kind etwas
gehört hat, weil er in einer Zeit lebte, in welcher der Werth des der Oeffent-
lichkeit angehörenden Mannes in erster Reese nach dessen ästhetischer Geschmacks¬
richtung beurtheilt wurde. Garlieb Merkel, der sich nicht nur um die Aufhebung
der Leibeigenscha>t in Liv-, Esth- und Kurland hohe Verdienste erwogen hat,
der zu der kleinen Schaar derer gehörie, die schon im Jahre 1806 zur Erhebung
gegen Napoleon ausriefen, der noch vor der Schlacht von Jena die Nothwen¬
digkeit einer NationaKrhebung gegen die Franzosen predigte und diese als
die einzige Rettung vor dem hereinbrechenden Jammer bezeichnete, der in
erster Reihe ein politischer Schriftsteller war, ist auch dem Deutschland
Von 1867 nur noch der Mann, der „gegen Goethe geschrieben". Keine der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/273>, abgerufen am 22.07.2024.