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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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vererben: kein Zug soll in dem Bilde fehlen, das unsere Enkel sich von dem
Zeitalter des classischen Idealismus machen werden, keine Lücke unausgefüllt,
keine Controverse ungelöst bleiben, die in künftigen Tagen zu schiefen Vorstel¬
lungen führen könnte.

Die überwiegende Anzahl all der Beiträge und Quellensammlungen zur
Geschichte der "goldnen Zeit" stammt mit kaum nennenswerthen Ausnahmen
aus den Hauptquartieren des classischen Idealismus und der Romantik, jenen
beiden Richtungen, die bei allem inneren Gegensatz doch lange Zeit hindurch
dem Literaturpöbel gegenüber fest zusammenstanden und erst auseinandergingen,
als 'es ihrer Bundesgenossenschaft nicht mehr bedürfte, weil ihre Sache in den
Augen des Volks entschieden, ans der Legion ihrer Gegner nur eine kleine
Anzahl bedeutungsloser Marodeure übrig geblieben war. Was wir aus diesem
gegnerischen Lager, aus der Welt der kleinen Leute der Literatur damaliger
Zeit wissen, stammt zum größten Theil aus den Aufzeichnungen ihrer großen
Gegner, und beschränkt sich auf das Nothwendigste, wird nur in so weit für der
Aufzeichnung würdig gehalten, als es zum Verständniß des Thuns und Lassens
der classischen Dichter nothwendig ist, auf diese Beziehung hat: die Topographie
des einen Lagers, seine Waffenstärke und Munition sind uns bis in die
minutiösesten Einzelheiten bekannt, bezüglich des andern begnügen wir uns mit
einer flüchtigen Skizze. So gerechtfertigt dieses Verhältniß vom Standpunkt
des ästhetischen Enthusiasmus erscheint, so ungenügend muß es für die historische
Forschung, für das Bedürfniß der Kritik sein.

Ganz abgesehen davon, daß man sich ein richtiges Bild von der damaligen
Lage der Dinge nur machen kann, wenn man beide Parteien gehört hat, wird
man sich einer eingehenderen Kenntnißnahme der Zustände des unseren Heroen
feindlichen Lagers um so weniger entziehen können, als die große Masse des
Publikums damals unter den Fahnen der falschen Propheten stand, und von
dem Götzendienst der Kotzebue. Nicolai und Genossen nur mühsam und allmälig
für den Cultus der wahren Schönheit gewonnen werden konnte. Es ist eine
große und unbestreitbare Wahrheit, die Julian Schmidt (Literaturgeschichte I, 9)
ausgesprochen hat, wenn er sagt: "Unsere Klassiker dichteten mit Bewußtsein
in einer Weise, die dem bisherigen Leben des Volks entgegengesetzt war: damals
waren die Künstler der Masse wirklich überlegen, sie besaßen den echten Lebens¬
gehalt, der den wirklichen Zuständen fehlte und konnten dem gesunden Menschen¬
verstand mit gutem Gewissen Spott und Hohn entgegensetzen." Die Anerkennug
dieser Wahrheit wird uns aber die Pflicht auferlegen, die Männer, welche die
Sache, der Wirklichkeit gegen den Idealismus vertraten, hinein ihrer einstigen
thatsächlichen Bedeutung entsprechenden Studium zu unterziehen. So gut das
Recht unsrer großen Künstler war, der "hoffnungslosen Realität" von damals
den Rücken zu kehren, so gerechtfertigt muß es uns, die wir die Dinge von


vererben: kein Zug soll in dem Bilde fehlen, das unsere Enkel sich von dem
Zeitalter des classischen Idealismus machen werden, keine Lücke unausgefüllt,
keine Controverse ungelöst bleiben, die in künftigen Tagen zu schiefen Vorstel¬
lungen führen könnte.

Die überwiegende Anzahl all der Beiträge und Quellensammlungen zur
Geschichte der „goldnen Zeit" stammt mit kaum nennenswerthen Ausnahmen
aus den Hauptquartieren des classischen Idealismus und der Romantik, jenen
beiden Richtungen, die bei allem inneren Gegensatz doch lange Zeit hindurch
dem Literaturpöbel gegenüber fest zusammenstanden und erst auseinandergingen,
als 'es ihrer Bundesgenossenschaft nicht mehr bedürfte, weil ihre Sache in den
Augen des Volks entschieden, ans der Legion ihrer Gegner nur eine kleine
Anzahl bedeutungsloser Marodeure übrig geblieben war. Was wir aus diesem
gegnerischen Lager, aus der Welt der kleinen Leute der Literatur damaliger
Zeit wissen, stammt zum größten Theil aus den Aufzeichnungen ihrer großen
Gegner, und beschränkt sich auf das Nothwendigste, wird nur in so weit für der
Aufzeichnung würdig gehalten, als es zum Verständniß des Thuns und Lassens
der classischen Dichter nothwendig ist, auf diese Beziehung hat: die Topographie
des einen Lagers, seine Waffenstärke und Munition sind uns bis in die
minutiösesten Einzelheiten bekannt, bezüglich des andern begnügen wir uns mit
einer flüchtigen Skizze. So gerechtfertigt dieses Verhältniß vom Standpunkt
des ästhetischen Enthusiasmus erscheint, so ungenügend muß es für die historische
Forschung, für das Bedürfniß der Kritik sein.

Ganz abgesehen davon, daß man sich ein richtiges Bild von der damaligen
Lage der Dinge nur machen kann, wenn man beide Parteien gehört hat, wird
man sich einer eingehenderen Kenntnißnahme der Zustände des unseren Heroen
feindlichen Lagers um so weniger entziehen können, als die große Masse des
Publikums damals unter den Fahnen der falschen Propheten stand, und von
dem Götzendienst der Kotzebue. Nicolai und Genossen nur mühsam und allmälig
für den Cultus der wahren Schönheit gewonnen werden konnte. Es ist eine
große und unbestreitbare Wahrheit, die Julian Schmidt (Literaturgeschichte I, 9)
ausgesprochen hat, wenn er sagt: „Unsere Klassiker dichteten mit Bewußtsein
in einer Weise, die dem bisherigen Leben des Volks entgegengesetzt war: damals
waren die Künstler der Masse wirklich überlegen, sie besaßen den echten Lebens¬
gehalt, der den wirklichen Zuständen fehlte und konnten dem gesunden Menschen¬
verstand mit gutem Gewissen Spott und Hohn entgegensetzen." Die Anerkennug
dieser Wahrheit wird uns aber die Pflicht auferlegen, die Männer, welche die
Sache, der Wirklichkeit gegen den Idealismus vertraten, hinein ihrer einstigen
thatsächlichen Bedeutung entsprechenden Studium zu unterziehen. So gut das
Recht unsrer großen Künstler war, der „hoffnungslosen Realität" von damals
den Rücken zu kehren, so gerechtfertigt muß es uns, die wir die Dinge von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/270>, abgerufen am 22.07.2024.