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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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auf den Anzug enthalten sein müsse. Dann ist freilich die Weste leichter ge¬
rechtfertigt. Meines Erachtens genügt es aber, wenn nur überhaupt in There-
sen" einleitenden Worten irgendeine Andeutung vorhanden ist, daß das Costüm
mit zur Vergegenwärtigung der zu erzählenden Geschichte gehöre, und diese
Andeutung ist auch ohne die Weste, nach der gewöhnlichen Lesart, zur
Genüge da.

Gegen diese Weste hätte ich aber sehr viel einzuwenden. Erstens fällt
Therese sonderbar ins Haus, wenn sie gleich damit anfängt: Da ich ihnen doch
einmal von der Zeit erzählen soll, in der ich mich so gern in dieser Weste sah.
Warum soll sie denn? Von ihrer Geschichte, auch, von ihrer Liebesgeschichte
ist die Rede gewesen, aber durchaus nicht von der Weste oder dem Costüm.
Sie hat also keinen Grund zu sagen, sie solle von der Zeit der Weste erzäh¬
len. Sodann, was ist von dem Geschmacke eines Mädch/us zu halten, das
die schöne Zeit der jungen Liebe nicht anders zu bezeichnen weiß als "die Zeit,
wo ich dies Costüm so gerne trug?" Das klingt, als wäre ihr jene Liebe
hauptsächlich als Würze des Wohlgefallens am Costüm in der Erinnerung
Werth. Und wenn sie nur wenigstens vom Anzüge im Allgemeinen spräche!
Aber dieses Mrs pro tot", diese repräsentative "Weste" ist gradezu komisch.
Und sie wird noch komischer, wenn man bedenkt, daß sie eine unpassende Re¬
präsentation wäre. Denn die Weste ist doch grade eines der weniger wesent¬
lichen und charakteristischen Stücke des männlichen Anzuges. Wir würden über
einen Mann lachen, der statt zu sa^en "die Zeit, wo ich diesen Anzug trug",
sich so ausdrückte "die Zeit, wo ich diese Weste trug". -- Therese ist zwar
kein Muster feiner Weiblichkeit und soll es nicht sein, aber lächerlich kann
Goethe sie nicht machen wollen, denn sie könnte dann keine Anziehungskraft
auf Lothario und Wilhelm üben. Und mit der Weste würde sie lächerlich.

Ich ziehe also der "Weste" die "Welt" bedeutend vor, obschon ich nicht
läugne, daß diese etwas matt ist. Ich halte es nicht für undenkbar, daß Goethe
wirklich so geschrieben, wie die erste Ausgabe lautet. Aber dann ist ihm eben eine
Geschmacklosigkeit und ein Fehler entschlüpft und die späteren Ausgaben zeigen
S. die Verbesserung.




auf den Anzug enthalten sein müsse. Dann ist freilich die Weste leichter ge¬
rechtfertigt. Meines Erachtens genügt es aber, wenn nur überhaupt in There-
sen» einleitenden Worten irgendeine Andeutung vorhanden ist, daß das Costüm
mit zur Vergegenwärtigung der zu erzählenden Geschichte gehöre, und diese
Andeutung ist auch ohne die Weste, nach der gewöhnlichen Lesart, zur
Genüge da.

Gegen diese Weste hätte ich aber sehr viel einzuwenden. Erstens fällt
Therese sonderbar ins Haus, wenn sie gleich damit anfängt: Da ich ihnen doch
einmal von der Zeit erzählen soll, in der ich mich so gern in dieser Weste sah.
Warum soll sie denn? Von ihrer Geschichte, auch, von ihrer Liebesgeschichte
ist die Rede gewesen, aber durchaus nicht von der Weste oder dem Costüm.
Sie hat also keinen Grund zu sagen, sie solle von der Zeit der Weste erzäh¬
len. Sodann, was ist von dem Geschmacke eines Mädch/us zu halten, das
die schöne Zeit der jungen Liebe nicht anders zu bezeichnen weiß als „die Zeit,
wo ich dies Costüm so gerne trug?" Das klingt, als wäre ihr jene Liebe
hauptsächlich als Würze des Wohlgefallens am Costüm in der Erinnerung
Werth. Und wenn sie nur wenigstens vom Anzüge im Allgemeinen spräche!
Aber dieses Mrs pro tot«, diese repräsentative „Weste" ist gradezu komisch.
Und sie wird noch komischer, wenn man bedenkt, daß sie eine unpassende Re¬
präsentation wäre. Denn die Weste ist doch grade eines der weniger wesent¬
lichen und charakteristischen Stücke des männlichen Anzuges. Wir würden über
einen Mann lachen, der statt zu sa^en „die Zeit, wo ich diesen Anzug trug",
sich so ausdrückte „die Zeit, wo ich diese Weste trug". — Therese ist zwar
kein Muster feiner Weiblichkeit und soll es nicht sein, aber lächerlich kann
Goethe sie nicht machen wollen, denn sie könnte dann keine Anziehungskraft
auf Lothario und Wilhelm üben. Und mit der Weste würde sie lächerlich.

Ich ziehe also der „Weste" die „Welt" bedeutend vor, obschon ich nicht
läugne, daß diese etwas matt ist. Ich halte es nicht für undenkbar, daß Goethe
wirklich so geschrieben, wie die erste Ausgabe lautet. Aber dann ist ihm eben eine
Geschmacklosigkeit und ein Fehler entschlüpft und die späteren Ausgaben zeigen
S. die Verbesserung.




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[0243] auf den Anzug enthalten sein müsse. Dann ist freilich die Weste leichter ge¬ rechtfertigt. Meines Erachtens genügt es aber, wenn nur überhaupt in There- sen» einleitenden Worten irgendeine Andeutung vorhanden ist, daß das Costüm mit zur Vergegenwärtigung der zu erzählenden Geschichte gehöre, und diese Andeutung ist auch ohne die Weste, nach der gewöhnlichen Lesart, zur Genüge da. Gegen diese Weste hätte ich aber sehr viel einzuwenden. Erstens fällt Therese sonderbar ins Haus, wenn sie gleich damit anfängt: Da ich ihnen doch einmal von der Zeit erzählen soll, in der ich mich so gern in dieser Weste sah. Warum soll sie denn? Von ihrer Geschichte, auch, von ihrer Liebesgeschichte ist die Rede gewesen, aber durchaus nicht von der Weste oder dem Costüm. Sie hat also keinen Grund zu sagen, sie solle von der Zeit der Weste erzäh¬ len. Sodann, was ist von dem Geschmacke eines Mädch/us zu halten, das die schöne Zeit der jungen Liebe nicht anders zu bezeichnen weiß als „die Zeit, wo ich dies Costüm so gerne trug?" Das klingt, als wäre ihr jene Liebe hauptsächlich als Würze des Wohlgefallens am Costüm in der Erinnerung Werth. Und wenn sie nur wenigstens vom Anzüge im Allgemeinen spräche! Aber dieses Mrs pro tot«, diese repräsentative „Weste" ist gradezu komisch. Und sie wird noch komischer, wenn man bedenkt, daß sie eine unpassende Re¬ präsentation wäre. Denn die Weste ist doch grade eines der weniger wesent¬ lichen und charakteristischen Stücke des männlichen Anzuges. Wir würden über einen Mann lachen, der statt zu sa^en „die Zeit, wo ich diesen Anzug trug", sich so ausdrückte „die Zeit, wo ich diese Weste trug". — Therese ist zwar kein Muster feiner Weiblichkeit und soll es nicht sein, aber lächerlich kann Goethe sie nicht machen wollen, denn sie könnte dann keine Anziehungskraft auf Lothario und Wilhelm üben. Und mit der Weste würde sie lächerlich. Ich ziehe also der „Weste" die „Welt" bedeutend vor, obschon ich nicht läugne, daß diese etwas matt ist. Ich halte es nicht für undenkbar, daß Goethe wirklich so geschrieben, wie die erste Ausgabe lautet. Aber dann ist ihm eben eine Geschmacklosigkeit und ein Fehler entschlüpft und die späteren Ausgaben zeigen S. die Verbesserung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/243>, abgerufen am 01.07.2024.