Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Gründung unseres neuen Lebens, aber auch Anfang und Vermittelung eines
weiteren Fortschritts. Und in dieser Beziehung ist der Verfassungsentwurf
allerdings einer Papierrolle ähnlich, welche in offener Scene einem Helden in
die Hand gedrückt wird, damit er seine bedeutsame Action damit mache, es
kommt vielleicht weniger darauf an, was darin steht, als daß die Rolle im
rechten Augenblick zur Stelle ist.

Diese Betrachtung durfte nicht die Sorgfalt vermindern, mit welcher der
Reichstag die einzelnen Bestimmungen des Vertrags prüfte, er selbst als Ver¬
treter des Gewissens und der Freiheitswünsche der Nation. Wohl aber machten
schon die Verhandlungen über Bundespräsidium und Bundesrath deutlich, daß
das Ministerium ebenso wie der Reichstag darüber unsicher sei, wie das Detail
der Negierung und Verwaltung des neuen Bundes gefunden werden solle. Eine
Mittheilung des Ministerpräsidenten suchte zur Ueberraschung der Versammlung
zu constatiren, daß die Negierung auch in den Verwaltungsgebieten, welche
fortan zur Competenz des Bundes gehören sollen, sich als dem preußischen
Landtag verantwortlich ansehen werde. Aus seinen Erklärungen ging wenig¬
stens so viel deutlich hervor, daß die preußische Regierung sich davor scheut,
den festen Bau des preußischen Staats, seine großartige, tüchtige und erprobte
Staatsmaschine zu zerstören, um einer neuen und noch unsichern Gestaltung
willen. Auch mancher von den Liberalen sah deshalb ohne Bedauern die Ver¬
suche seiner Freunde scheitern, eine gewisse politische Verantwortlichkeit den
Hilfsarbeitern des Bundeskanzlers und des Ministerpräsidenten aufzuerlegen.
Der moralischen und juridischen Verantwortung unterliegt jeder Beamte, die
Politische Verantwortung, welche nur die leitenden Beamten eines Staates treffen
kann, und welche in gewissen ausnahmsweisen Fällen durch ein Ausnahmegericht
ihr Haupt zu bestricken sucht, grade weil die moralische und juridische Verant¬
wortung sich bei ihrer hohen Stelle als unzureichend erweist, solche politische
Verantwortung kann den Leitern preußischer Politik nur von den Preußen
selbst abgefordert werden. Und so lange nicht die Möglichkeit gegeben ist,
Siamesische Zwillinge zu Ministern zu machen, ist bei der gegenwärtigen Lage
der Dinge vielleicht unmöglich, jedenfalls nicht rathsam, den preußischen Minister-
Präsidenten oder gar seine Unterbeamten mit einer politischen Verantwortlichkeit
gegenüber dem Bundesrath und Reichstag zu begaben, zumal wenn man einen
Zutritt der Südstaaten für nahe bevorstehend hält.

Sogleich nach Eröffnung des Reichstages erwies sich das StimMenverhält-
niß der Parteien als sehr ungünstig für sichere Majoritäten. Wenn die liberalen
Fractionen gegen die Regierung votirten, wurde durch den Zutritt oder Abfall
der Polen, Saxonen, Hannoveraner, Holsteiner und Ultramontanen fast zufällig
ein kleines Mehr oder Minder hervorgebracht. Sollte das Verfassungswerk
gesichert werden, so konnte dies nur durch das Zusammenwirken der großen


21*

Gründung unseres neuen Lebens, aber auch Anfang und Vermittelung eines
weiteren Fortschritts. Und in dieser Beziehung ist der Verfassungsentwurf
allerdings einer Papierrolle ähnlich, welche in offener Scene einem Helden in
die Hand gedrückt wird, damit er seine bedeutsame Action damit mache, es
kommt vielleicht weniger darauf an, was darin steht, als daß die Rolle im
rechten Augenblick zur Stelle ist.

Diese Betrachtung durfte nicht die Sorgfalt vermindern, mit welcher der
Reichstag die einzelnen Bestimmungen des Vertrags prüfte, er selbst als Ver¬
treter des Gewissens und der Freiheitswünsche der Nation. Wohl aber machten
schon die Verhandlungen über Bundespräsidium und Bundesrath deutlich, daß
das Ministerium ebenso wie der Reichstag darüber unsicher sei, wie das Detail
der Negierung und Verwaltung des neuen Bundes gefunden werden solle. Eine
Mittheilung des Ministerpräsidenten suchte zur Ueberraschung der Versammlung
zu constatiren, daß die Negierung auch in den Verwaltungsgebieten, welche
fortan zur Competenz des Bundes gehören sollen, sich als dem preußischen
Landtag verantwortlich ansehen werde. Aus seinen Erklärungen ging wenig¬
stens so viel deutlich hervor, daß die preußische Regierung sich davor scheut,
den festen Bau des preußischen Staats, seine großartige, tüchtige und erprobte
Staatsmaschine zu zerstören, um einer neuen und noch unsichern Gestaltung
willen. Auch mancher von den Liberalen sah deshalb ohne Bedauern die Ver¬
suche seiner Freunde scheitern, eine gewisse politische Verantwortlichkeit den
Hilfsarbeitern des Bundeskanzlers und des Ministerpräsidenten aufzuerlegen.
Der moralischen und juridischen Verantwortung unterliegt jeder Beamte, die
Politische Verantwortung, welche nur die leitenden Beamten eines Staates treffen
kann, und welche in gewissen ausnahmsweisen Fällen durch ein Ausnahmegericht
ihr Haupt zu bestricken sucht, grade weil die moralische und juridische Verant¬
wortung sich bei ihrer hohen Stelle als unzureichend erweist, solche politische
Verantwortung kann den Leitern preußischer Politik nur von den Preußen
selbst abgefordert werden. Und so lange nicht die Möglichkeit gegeben ist,
Siamesische Zwillinge zu Ministern zu machen, ist bei der gegenwärtigen Lage
der Dinge vielleicht unmöglich, jedenfalls nicht rathsam, den preußischen Minister-
Präsidenten oder gar seine Unterbeamten mit einer politischen Verantwortlichkeit
gegenüber dem Bundesrath und Reichstag zu begaben, zumal wenn man einen
Zutritt der Südstaaten für nahe bevorstehend hält.

Sogleich nach Eröffnung des Reichstages erwies sich das StimMenverhält-
niß der Parteien als sehr ungünstig für sichere Majoritäten. Wenn die liberalen
Fractionen gegen die Regierung votirten, wurde durch den Zutritt oder Abfall
der Polen, Saxonen, Hannoveraner, Holsteiner und Ultramontanen fast zufällig
ein kleines Mehr oder Minder hervorgebracht. Sollte das Verfassungswerk
gesichert werden, so konnte dies nur durch das Zusammenwirken der großen


21*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0167" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/190861"/>
          <p xml:id="ID_500" prev="#ID_499"> Gründung unseres neuen Lebens, aber auch Anfang und Vermittelung eines<lb/>
weiteren Fortschritts. Und in dieser Beziehung ist der Verfassungsentwurf<lb/>
allerdings einer Papierrolle ähnlich, welche in offener Scene einem Helden in<lb/>
die Hand gedrückt wird, damit er seine bedeutsame Action damit mache, es<lb/>
kommt vielleicht weniger darauf an, was darin steht, als daß die Rolle im<lb/>
rechten Augenblick zur Stelle ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_501"> Diese Betrachtung durfte nicht die Sorgfalt vermindern, mit welcher der<lb/>
Reichstag die einzelnen Bestimmungen des Vertrags prüfte, er selbst als Ver¬<lb/>
treter des Gewissens und der Freiheitswünsche der Nation. Wohl aber machten<lb/>
schon die Verhandlungen über Bundespräsidium und Bundesrath deutlich, daß<lb/>
das Ministerium ebenso wie der Reichstag darüber unsicher sei, wie das Detail<lb/>
der Negierung und Verwaltung des neuen Bundes gefunden werden solle. Eine<lb/>
Mittheilung des Ministerpräsidenten suchte zur Ueberraschung der Versammlung<lb/>
zu constatiren, daß die Negierung auch in den Verwaltungsgebieten, welche<lb/>
fortan zur Competenz des Bundes gehören sollen, sich als dem preußischen<lb/>
Landtag verantwortlich ansehen werde. Aus seinen Erklärungen ging wenig¬<lb/>
stens so viel deutlich hervor, daß die preußische Regierung sich davor scheut,<lb/>
den festen Bau des preußischen Staats, seine großartige, tüchtige und erprobte<lb/>
Staatsmaschine zu zerstören, um einer neuen und noch unsichern Gestaltung<lb/>
willen. Auch mancher von den Liberalen sah deshalb ohne Bedauern die Ver¬<lb/>
suche seiner Freunde scheitern, eine gewisse politische Verantwortlichkeit den<lb/>
Hilfsarbeitern des Bundeskanzlers und des Ministerpräsidenten aufzuerlegen.<lb/>
Der moralischen und juridischen Verantwortung unterliegt jeder Beamte, die<lb/>
Politische Verantwortung, welche nur die leitenden Beamten eines Staates treffen<lb/>
kann, und welche in gewissen ausnahmsweisen Fällen durch ein Ausnahmegericht<lb/>
ihr Haupt zu bestricken sucht, grade weil die moralische und juridische Verant¬<lb/>
wortung sich bei ihrer hohen Stelle als unzureichend erweist, solche politische<lb/>
Verantwortung kann den Leitern preußischer Politik nur von den Preußen<lb/>
selbst abgefordert werden. Und so lange nicht die Möglichkeit gegeben ist,<lb/>
Siamesische Zwillinge zu Ministern zu machen, ist bei der gegenwärtigen Lage<lb/>
der Dinge vielleicht unmöglich, jedenfalls nicht rathsam, den preußischen Minister-<lb/>
Präsidenten oder gar seine Unterbeamten mit einer politischen Verantwortlichkeit<lb/>
gegenüber dem Bundesrath und Reichstag zu begaben, zumal wenn man einen<lb/>
Zutritt der Südstaaten für nahe bevorstehend hält.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_502" next="#ID_503"> Sogleich nach Eröffnung des Reichstages erwies sich das StimMenverhält-<lb/>
niß der Parteien als sehr ungünstig für sichere Majoritäten. Wenn die liberalen<lb/>
Fractionen gegen die Regierung votirten, wurde durch den Zutritt oder Abfall<lb/>
der Polen, Saxonen, Hannoveraner, Holsteiner und Ultramontanen fast zufällig<lb/>
ein kleines Mehr oder Minder hervorgebracht. Sollte das Verfassungswerk<lb/>
gesichert werden, so konnte dies nur durch das Zusammenwirken der großen</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 21*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0167] Gründung unseres neuen Lebens, aber auch Anfang und Vermittelung eines weiteren Fortschritts. Und in dieser Beziehung ist der Verfassungsentwurf allerdings einer Papierrolle ähnlich, welche in offener Scene einem Helden in die Hand gedrückt wird, damit er seine bedeutsame Action damit mache, es kommt vielleicht weniger darauf an, was darin steht, als daß die Rolle im rechten Augenblick zur Stelle ist. Diese Betrachtung durfte nicht die Sorgfalt vermindern, mit welcher der Reichstag die einzelnen Bestimmungen des Vertrags prüfte, er selbst als Ver¬ treter des Gewissens und der Freiheitswünsche der Nation. Wohl aber machten schon die Verhandlungen über Bundespräsidium und Bundesrath deutlich, daß das Ministerium ebenso wie der Reichstag darüber unsicher sei, wie das Detail der Negierung und Verwaltung des neuen Bundes gefunden werden solle. Eine Mittheilung des Ministerpräsidenten suchte zur Ueberraschung der Versammlung zu constatiren, daß die Negierung auch in den Verwaltungsgebieten, welche fortan zur Competenz des Bundes gehören sollen, sich als dem preußischen Landtag verantwortlich ansehen werde. Aus seinen Erklärungen ging wenig¬ stens so viel deutlich hervor, daß die preußische Regierung sich davor scheut, den festen Bau des preußischen Staats, seine großartige, tüchtige und erprobte Staatsmaschine zu zerstören, um einer neuen und noch unsichern Gestaltung willen. Auch mancher von den Liberalen sah deshalb ohne Bedauern die Ver¬ suche seiner Freunde scheitern, eine gewisse politische Verantwortlichkeit den Hilfsarbeitern des Bundeskanzlers und des Ministerpräsidenten aufzuerlegen. Der moralischen und juridischen Verantwortung unterliegt jeder Beamte, die Politische Verantwortung, welche nur die leitenden Beamten eines Staates treffen kann, und welche in gewissen ausnahmsweisen Fällen durch ein Ausnahmegericht ihr Haupt zu bestricken sucht, grade weil die moralische und juridische Verant¬ wortung sich bei ihrer hohen Stelle als unzureichend erweist, solche politische Verantwortung kann den Leitern preußischer Politik nur von den Preußen selbst abgefordert werden. Und so lange nicht die Möglichkeit gegeben ist, Siamesische Zwillinge zu Ministern zu machen, ist bei der gegenwärtigen Lage der Dinge vielleicht unmöglich, jedenfalls nicht rathsam, den preußischen Minister- Präsidenten oder gar seine Unterbeamten mit einer politischen Verantwortlichkeit gegenüber dem Bundesrath und Reichstag zu begaben, zumal wenn man einen Zutritt der Südstaaten für nahe bevorstehend hält. Sogleich nach Eröffnung des Reichstages erwies sich das StimMenverhält- niß der Parteien als sehr ungünstig für sichere Majoritäten. Wenn die liberalen Fractionen gegen die Regierung votirten, wurde durch den Zutritt oder Abfall der Polen, Saxonen, Hannoveraner, Holsteiner und Ultramontanen fast zufällig ein kleines Mehr oder Minder hervorgebracht. Sollte das Verfassungswerk gesichert werden, so konnte dies nur durch das Zusammenwirken der großen 21*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/167
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/167>, abgerufen am 03.07.2024.