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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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unmöglichen Gestalt. Nicht ein harmonisch geordneter Mikrokosmos, nicht ein
woblproportionirter Zwerg ist dieses Laut'; seine wahre Natur ist die des
Krüppels, der großartige Apparat des wirklichen Staates, indem man ihn
hineinschraubte in winzige Dimensionen, ist zur Caricatur geworden. Es ist,
als Ware dies Staatswesen auf das Prokrustesbett gespannt: hier zerrt man
auseinander, dort schneidet man ab; was herauskommt, ist ein Körper mit
gewaltig großem Kopf und unersättlichen Magen, aber mit verstümmelten
Armen und Beinen. Und nicht einmal eines Stoffes ist dieser sonderbare
Leib; mitten durch das Händchen zieht sich die Grenzscheide zwischen west¬
fälischen Sachsen und hessischen Franken. Die künstliche Fessel der waldeckschen
Dynastie allein ist es, die beide Theile aneinanderkettet und sie hindert, dem
natürlichen Zuge der Mundart und Sitte, sowie der materiellen Interessen un¬
gestört zu folgen. Das Unheil dieses Staates ist kein anderes als der Staat
selbst. Will er ernstlich Abhilfe schaffen, so giebt es nur einen Weg: sich dem
größeren Ganzen zu opfern.

Lange bereits war diese Nothwendigkeit mehr oder weniger klar von
uns begriffen worden, die Katastrophe des vergangenen Jahres hat sie
unabweisbar gemacht. Kläglicher denn in jenen Tagen war die "Souveränetät"
der norddeutschen Kleinstaaten wohl niemals anzuschauen. Man weiß bestimmt,
es regten sich damals bei uns in hohen Kreisen wenn nicht gradezu östreichi¬
sche, so doch stark augusienburgische Velleitäten; eine energische Note deS preu¬
ßischen Gesandten in Kassel indeß brachte die Schwankenden noch früh genug
zur Besinnung. Als treue Bundesgenossen des mächtigen Nachbarn zogen unsere
Truppen fröhlich in den Krieg. Ihre Thaten zu besingen, ist nicht unseres
Amtes; so weit sie bekannt geworden, gehört ein gut Theil vor das Tribunal
des Humors. Das Endresultat aber des gemeinsamen Sieges war für
unsern Staat als solchen das verderblichste. Schon bei der Berathung über
die Grundzüge zu einer neuen Bundesverfassung machte der Landtag sehr be¬
denkliche Schwierigkeiten ; nur durch die angestrengtesten Beschwichtigungen der
Regierung entging das liberale Waldeck der Schande, von Mecklenburg über¬
treffen zu werden. Nun aber die Bestimmungen des Verfassungsentwurfs selbst
bekannt geworden, liegt unser Land ganz und gar in Verzweiflung. Die große
Errungenschaft des allgemeinen norddeutschen Jndigcnats kann für unsere Ver¬
hältnisse nur die Bedeutung erleichterter Auswanderungsmöglichkeit haben; die
finanziellen Forderungen des Entwurfs aber schmettern uns vollends zu Boden.
Abgesehen von allen sonstigen Mehrausgaben, wie die Beiträge zur Marine,
zum Knegssebatz. die Vertretung im Bundesrathe, würde allein unser Militär¬
budget von 45,000 auf über 130.000 Thaler steigen. Mag immerhin Preußen
die Kleinstaaten vorerst möglichst zu schonen suchen, die bisherigen Zollintraden,
circa 95.000 Thaler, also' mehr als ein Sechstel unseres gesammten Einnahme-


Grcnzboten II. 18K7. 13

unmöglichen Gestalt. Nicht ein harmonisch geordneter Mikrokosmos, nicht ein
woblproportionirter Zwerg ist dieses Laut'; seine wahre Natur ist die des
Krüppels, der großartige Apparat des wirklichen Staates, indem man ihn
hineinschraubte in winzige Dimensionen, ist zur Caricatur geworden. Es ist,
als Ware dies Staatswesen auf das Prokrustesbett gespannt: hier zerrt man
auseinander, dort schneidet man ab; was herauskommt, ist ein Körper mit
gewaltig großem Kopf und unersättlichen Magen, aber mit verstümmelten
Armen und Beinen. Und nicht einmal eines Stoffes ist dieser sonderbare
Leib; mitten durch das Händchen zieht sich die Grenzscheide zwischen west¬
fälischen Sachsen und hessischen Franken. Die künstliche Fessel der waldeckschen
Dynastie allein ist es, die beide Theile aneinanderkettet und sie hindert, dem
natürlichen Zuge der Mundart und Sitte, sowie der materiellen Interessen un¬
gestört zu folgen. Das Unheil dieses Staates ist kein anderes als der Staat
selbst. Will er ernstlich Abhilfe schaffen, so giebt es nur einen Weg: sich dem
größeren Ganzen zu opfern.

Lange bereits war diese Nothwendigkeit mehr oder weniger klar von
uns begriffen worden, die Katastrophe des vergangenen Jahres hat sie
unabweisbar gemacht. Kläglicher denn in jenen Tagen war die „Souveränetät"
der norddeutschen Kleinstaaten wohl niemals anzuschauen. Man weiß bestimmt,
es regten sich damals bei uns in hohen Kreisen wenn nicht gradezu östreichi¬
sche, so doch stark augusienburgische Velleitäten; eine energische Note deS preu¬
ßischen Gesandten in Kassel indeß brachte die Schwankenden noch früh genug
zur Besinnung. Als treue Bundesgenossen des mächtigen Nachbarn zogen unsere
Truppen fröhlich in den Krieg. Ihre Thaten zu besingen, ist nicht unseres
Amtes; so weit sie bekannt geworden, gehört ein gut Theil vor das Tribunal
des Humors. Das Endresultat aber des gemeinsamen Sieges war für
unsern Staat als solchen das verderblichste. Schon bei der Berathung über
die Grundzüge zu einer neuen Bundesverfassung machte der Landtag sehr be¬
denkliche Schwierigkeiten ; nur durch die angestrengtesten Beschwichtigungen der
Regierung entging das liberale Waldeck der Schande, von Mecklenburg über¬
treffen zu werden. Nun aber die Bestimmungen des Verfassungsentwurfs selbst
bekannt geworden, liegt unser Land ganz und gar in Verzweiflung. Die große
Errungenschaft des allgemeinen norddeutschen Jndigcnats kann für unsere Ver¬
hältnisse nur die Bedeutung erleichterter Auswanderungsmöglichkeit haben; die
finanziellen Forderungen des Entwurfs aber schmettern uns vollends zu Boden.
Abgesehen von allen sonstigen Mehrausgaben, wie die Beiträge zur Marine,
zum Knegssebatz. die Vertretung im Bundesrathe, würde allein unser Militär¬
budget von 45,000 auf über 130.000 Thaler steigen. Mag immerhin Preußen
die Kleinstaaten vorerst möglichst zu schonen suchen, die bisherigen Zollintraden,
circa 95.000 Thaler, also' mehr als ein Sechstel unseres gesammten Einnahme-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/101>, abgerufen am 22.07.2024.