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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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Die alte Grenze zwischen Nord- und Süodentschland.

Bis zum prager Frieden ließ sich von einer bestimmten Grenzlinie zwischen
Nord- und Süddeutschland nicht sprechen: zwischen den unzweifelhaft nord¬
deutschen und den unzweifelhaft süddeutschen Territorien gab es einen Länder¬
gürtel, dessen relative Selbständigkeit der Volksmund durch die Bezeichnung
"Mitteldeutschland" anerkannt hatte. Es gehörten dazu die nassauischen, die gro߬
herzoglich hessischen und die thüringischen Lande. Zwar in wirthschaftlicher,
intellectueller und religiöser Beziehung gehörten diese Gebiete, vor allem das
thüringische, zu Norddeutschland; aber, während sich die Energie des norddeutschen
und des süddeutschen Wesens in den Bewohnern auf eigenthümliche Weise
neutralisirte, fühlten sie sich in ihren Gewohnheiten, besonders in der Läßlich¬
keit einer minder disciplinirten Weltanschauung den Süddeutschen offenkundig
näher verwandt. Dies Mittelglied zwischen den beiden Hauptmassen deutschen
Gebietes fehlte ehedem. Es gab eine Zeit, und sie währte viele Jahrhunderte,
wo mitten durch die thüringischen Lande eine Grenzlinie ging, welche zwei
Bisthümer, zwei Idiome, das Recht zweier Volksstämme, die Sitte, die Art zu
leben, zu bauen und sich zu kleiden, scharf von einander trennte. Seit den
Tagen der Reformation und seit die südlichen Vorlande des thüringer Waldes
sich allmälig zum Besitze der Wettiner sammelten, begann diese Grenzlinie
verwischt zu werden, und heute ist der alte Unterschied von Diesseits und Jen¬
seits fast nur noch dem Forscher erkennbar; das Volk ist sich desselben nur noch
in einzelnen Beziehungen und nur in lokaler Beschränkung bewußt. Ja, so
sehr ist der einst so eminent ausgeprägte Grenzcharatter der merkwürdigen
Linie, von der hier die Rede ist. ausgelöscht, daß selbst ihrem uralten, jedem
Anwohner wohlbekannten Namen lange Zeit hindurch eine verkehrte Bedeutung
beigelegt werden konnte. Wir erkennen hier an einem lehrreichen Beispiele,
wie vor neuen gemeinsamen Aufgaben alte Besonderheiten absterben, und
schöpfen daraus tröstliche Hoffnungen. Ist jene uralte Grenzlinie ausgetilgt
worden, so wird auch die neue südlichere, welche in das deutsche Gebiet hat
hineingezeichnet werden müssen und die bei Weitem nicht so tief einschneidet,
als jene einschnitt. sich nicht behaupten. Es scheint uns aber, als erwüchse
grade für die ausgeglichene Mitte deutschen Wesens die Aufgabe, aus jener
gemüthlichen Neutralität sich zu positiver Wirkung zu erheben und mit beson¬
derem Nachdruck die Gedanken der Vermittelung und der Versöhnung auszu¬
bilden und zu vertreten.

Zu diesen Bemerkungen veranlaßt uns eine Arbeit des meininger Hos- und


Grenzboten !U. 18ö?. 64
Die alte Grenze zwischen Nord- und Süodentschland.

Bis zum prager Frieden ließ sich von einer bestimmten Grenzlinie zwischen
Nord- und Süddeutschland nicht sprechen: zwischen den unzweifelhaft nord¬
deutschen und den unzweifelhaft süddeutschen Territorien gab es einen Länder¬
gürtel, dessen relative Selbständigkeit der Volksmund durch die Bezeichnung
„Mitteldeutschland" anerkannt hatte. Es gehörten dazu die nassauischen, die gro߬
herzoglich hessischen und die thüringischen Lande. Zwar in wirthschaftlicher,
intellectueller und religiöser Beziehung gehörten diese Gebiete, vor allem das
thüringische, zu Norddeutschland; aber, während sich die Energie des norddeutschen
und des süddeutschen Wesens in den Bewohnern auf eigenthümliche Weise
neutralisirte, fühlten sie sich in ihren Gewohnheiten, besonders in der Läßlich¬
keit einer minder disciplinirten Weltanschauung den Süddeutschen offenkundig
näher verwandt. Dies Mittelglied zwischen den beiden Hauptmassen deutschen
Gebietes fehlte ehedem. Es gab eine Zeit, und sie währte viele Jahrhunderte,
wo mitten durch die thüringischen Lande eine Grenzlinie ging, welche zwei
Bisthümer, zwei Idiome, das Recht zweier Volksstämme, die Sitte, die Art zu
leben, zu bauen und sich zu kleiden, scharf von einander trennte. Seit den
Tagen der Reformation und seit die südlichen Vorlande des thüringer Waldes
sich allmälig zum Besitze der Wettiner sammelten, begann diese Grenzlinie
verwischt zu werden, und heute ist der alte Unterschied von Diesseits und Jen¬
seits fast nur noch dem Forscher erkennbar; das Volk ist sich desselben nur noch
in einzelnen Beziehungen und nur in lokaler Beschränkung bewußt. Ja, so
sehr ist der einst so eminent ausgeprägte Grenzcharatter der merkwürdigen
Linie, von der hier die Rede ist. ausgelöscht, daß selbst ihrem uralten, jedem
Anwohner wohlbekannten Namen lange Zeit hindurch eine verkehrte Bedeutung
beigelegt werden konnte. Wir erkennen hier an einem lehrreichen Beispiele,
wie vor neuen gemeinsamen Aufgaben alte Besonderheiten absterben, und
schöpfen daraus tröstliche Hoffnungen. Ist jene uralte Grenzlinie ausgetilgt
worden, so wird auch die neue südlichere, welche in das deutsche Gebiet hat
hineingezeichnet werden müssen und die bei Weitem nicht so tief einschneidet,
als jene einschnitt. sich nicht behaupten. Es scheint uns aber, als erwüchse
grade für die ausgeglichene Mitte deutschen Wesens die Aufgabe, aus jener
gemüthlichen Neutralität sich zu positiver Wirkung zu erheben und mit beson¬
derem Nachdruck die Gedanken der Vermittelung und der Versöhnung auszu¬
bilden und zu vertreten.

Zu diesen Bemerkungen veranlaßt uns eine Arbeit des meininger Hos- und


Grenzboten !U. 18ö?. 64
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[0515] Die alte Grenze zwischen Nord- und Süodentschland. Bis zum prager Frieden ließ sich von einer bestimmten Grenzlinie zwischen Nord- und Süddeutschland nicht sprechen: zwischen den unzweifelhaft nord¬ deutschen und den unzweifelhaft süddeutschen Territorien gab es einen Länder¬ gürtel, dessen relative Selbständigkeit der Volksmund durch die Bezeichnung „Mitteldeutschland" anerkannt hatte. Es gehörten dazu die nassauischen, die gro߬ herzoglich hessischen und die thüringischen Lande. Zwar in wirthschaftlicher, intellectueller und religiöser Beziehung gehörten diese Gebiete, vor allem das thüringische, zu Norddeutschland; aber, während sich die Energie des norddeutschen und des süddeutschen Wesens in den Bewohnern auf eigenthümliche Weise neutralisirte, fühlten sie sich in ihren Gewohnheiten, besonders in der Läßlich¬ keit einer minder disciplinirten Weltanschauung den Süddeutschen offenkundig näher verwandt. Dies Mittelglied zwischen den beiden Hauptmassen deutschen Gebietes fehlte ehedem. Es gab eine Zeit, und sie währte viele Jahrhunderte, wo mitten durch die thüringischen Lande eine Grenzlinie ging, welche zwei Bisthümer, zwei Idiome, das Recht zweier Volksstämme, die Sitte, die Art zu leben, zu bauen und sich zu kleiden, scharf von einander trennte. Seit den Tagen der Reformation und seit die südlichen Vorlande des thüringer Waldes sich allmälig zum Besitze der Wettiner sammelten, begann diese Grenzlinie verwischt zu werden, und heute ist der alte Unterschied von Diesseits und Jen¬ seits fast nur noch dem Forscher erkennbar; das Volk ist sich desselben nur noch in einzelnen Beziehungen und nur in lokaler Beschränkung bewußt. Ja, so sehr ist der einst so eminent ausgeprägte Grenzcharatter der merkwürdigen Linie, von der hier die Rede ist. ausgelöscht, daß selbst ihrem uralten, jedem Anwohner wohlbekannten Namen lange Zeit hindurch eine verkehrte Bedeutung beigelegt werden konnte. Wir erkennen hier an einem lehrreichen Beispiele, wie vor neuen gemeinsamen Aufgaben alte Besonderheiten absterben, und schöpfen daraus tröstliche Hoffnungen. Ist jene uralte Grenzlinie ausgetilgt worden, so wird auch die neue südlichere, welche in das deutsche Gebiet hat hineingezeichnet werden müssen und die bei Weitem nicht so tief einschneidet, als jene einschnitt. sich nicht behaupten. Es scheint uns aber, als erwüchse grade für die ausgeglichene Mitte deutschen Wesens die Aufgabe, aus jener gemüthlichen Neutralität sich zu positiver Wirkung zu erheben und mit beson¬ derem Nachdruck die Gedanken der Vermittelung und der Versöhnung auszu¬ bilden und zu vertreten. Zu diesen Bemerkungen veranlaßt uns eine Arbeit des meininger Hos- und Grenzboten !U. 18ö?. 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/515>, abgerufen am 15.01.2025.